John Wray: A Charming Boy

© Joana Radzyner

 

altDer große Durchbruch gelang  John Wray  mit seinem dritten Buch. Einer intimen Studie der Schizophrenie am Beispiel eines  Sechzehnjährigen, der nach Absetzung seiner Medikamente  eine erratische Fahrt durch das U-Bahnsystem von New York unternimmt. Für die Auseinandersetzung mit der österreichischen Zwischenkriegsgeschichte, das Thema seines ersten Romans, hatte die amerikanische Öffentlichkeit weniger übrig. Der "Anschluß" Österreichs an Nazideutschland, muss sich der  39jährige US-Schriftsteller mit österreichischen Wurzeln eingestehen, sei  auch für gebildete Amerikaner ein obskures Thema. Trotzdem habe er auch seinen neuen, noch  unveröffentlichten Roman in der Heimat seiner Mutter  angesiedelt, verrät der jüngste Star des diesjährigen internationalen "Prague Writers' Festival"  im perfekten, kärntnerisch gefärbten Deutsch und stürzt sich in die nächste Diskussionsrunde über „Ketzerei und Rebellion“ im Prager Nationaltheater.

Die Fotos zeigen John Henderson (Künstlername Wray) kurz nach seiner Ankunft aus den USA in Prag am 5.6. mit Bart, am 6.6. ohne Bart
.

Radzyner: Warum haben Sie sich als gebürtiger Amerikaner in Ihrem ersten Roman mit der österreichischen  Zwischenkriegs- und Nazivergangenheit beschäftigt?
Wray: Der österreichische Zweig meiner Familie  interessiert sich sehr stark für  Geschichte, ganz besonders mein in Wien lebender Onkel, der das Wiener U-Bahnnetz  mitgeplant hat.  Bei meinen Recherchen vor Ort habe ich  viel dazugelernt. Meine wichtigste Erkenntnis war,  dass die Geschichte sich widerspricht. Wenn du drei Bücher über den "Anschluß" liest, findest du drei verschiedene Varianten in der Beschreibung der Fakten. Für einen Schriftsteller ist das wunderbar, denn da zeigt sich, dass  Geschichte nicht in Granit gemeißelt ist, sondern großen Spielraum für Interpretation und sogar für frei Erfundenes zulässt. Diesen Spielraum habe ich ausgenützt. Die Einwohner von Friesach, wo meine Mutter aufgewachsen ist und wo ich wunderschöne Kindheitserlebnisse hatte, waren mir auch  nicht böse, als sie sich  in  "Die rechte Hand des Schlafes"  als arge Nazi wiedererkennen mussten.

Wie war die Rezeption Ihres Debütromans in den Vereinigten Staaten?
Die Kritiken waren berauschend, die Verkaufszahlen enttäuschend. Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass auch der gebildete amerikanische Durchschnittsleser  mit dem Begriff "Anschluß"  nichts anfangen kann. Als halber Österreicher habe ich es nicht glauben wollen, dass es Leute geben könnte, die  das Thema "Anschluß" kalt lässt.

Dann ist es sieben Jahre still um Sie geworden.
Es war eine harte Zeit. Dein Verlag steht nicht hinter dir, du hast Schwierigkeiten mit der Lektorin. Aber mit der Zeit wird man  zäh und kommt mit Frust und Depressionen immer  besser zurande. Ich bin ja an sich ein lebensfreudiger Mensch .

Sie haben sechs Jahre an Ihrem Roman „LOWBOY“ geschrieben. Wie haben Sie sich finanziell durchgeschlagen? 
Man  leiht sich  Geld. Und glücklicherweise  brauche ich nicht nicht viel. Ich trage Second-Hand-Kleidung  und  lebe nicht in Manhattan sondern in Brooklyn, wo das Leben wesentlich billiger ist. Meine einzige Schwäche, gebe ich zu, ist auswärts essen gehen. Das Geld ist mir im fünften Jahr ausgegangen. Daraufhin habe ich als Journalist angefangen und  hatte wieder Glück.  Es gibt in den Staaten  Magazine, die es gerne sehen, wenn ein Autor als Journalist anheuert. Aber diese Mischung ist gefährlich. Als Schriftsteller kommt man immer wieder in Versuchung, etwas  zu erfinden, damit  eine Wahrheit ans Tageslicht kommt, die  kein Befragter  bereit war, öffentlich auszusprechen! Ich musste wirklich immer wieder sehr hart mit mir kämpfen, um nicht einzugreifen!

Mit "Lowboy" haben Sie den internationalen Durchbruch geschafft. Die Geschichte eines schizophrenen Jugendlichen in der New Yorker U-Bahn. Ist das Thema Schizophrenie so sexy?
Die Leute wollen in ihrem täglichen  Leben  von Geisteskrankheit nichts wissen.  Schizophrenie macht ihnen Angst. Gleichzeitig geht vom Thema Geisteskrankheit eine ganz besondere Faszination aus. Wenn man den Menschen Schizophrenie in Sprachbildern vermittelt und  sie eine Ahnung davon bekommen, ohne  sich  persönlich mit einem  Schizophrenen auseinandersetzen zu müssen, ist der Erfolg garantiert. Dabei muss man aber wissen, dass es in New York wirklich viele Geisteskranke gibt  und es nicht schwer ist, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ich habe mich mit vielen von ihnen unterhalten. Sie waren  dankbar für das Gespräch, weil sie sehr einsam sind. Geisteskrankheit  ist ein faszinierendes Thema, denn in Wahrheit hat doch jeder von uns einen äußerst subjektiven, ja subjektiv gestörten  Blick auf die Wirklichkeit! Objektivität ist nur ein Märchen, wenngleich ich zugeben muß, dass es ein äußerst brauchbares ist. 

Seit kurzen gehören auch Sie dem Kultur-Establishment an. Haben Sie das Gefühl, endlich angekommen zu sein?
Ich finde die Situation  höchst amüsant. In meinem Inneren hat sich nichts verändert.  Nur  der Kontext ist neu und bewirkt, dass ich von der Gesellschaft plötzlich als glaubwürdige Figur wahrgenommen werde. Gestern posierte ich hier in Prag mit weltbekannten Dichtern und einem  gefeierten Nobelpreisträger für ein Gruppenphoto und stellte plötzlich fest,dass ich in diesem illustren Kreis nicht aus dem Rahmen falle – äußerlich. 

 Wray, Enzensberger, March

In deutscher Übersetzung  von John Wray erschienen: "Die rechte Hand des Schlafes“(Berlin Verlag, Berlin 2002), "Retter der Welt"(Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009), "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" (Rowohlt, 2016)

Joana Radzyner, Prag, 8.6.2010

 

 

 

John Wray schreibt an seinem vierten Roman. Wie er heißen soll, weiß er noch nicht, auch nicht, wann er fertig sein wird. Fest steht aber, dass die Geschichte seiner Familie, die auch Wurzeln im heutigen Tschechien hat, darin eine zentrale Rolle spielt:„Mein Ururgroßvater stammte aus Mähren. Er war ein sehr kluger und sehr ehrgeiziger junger Mann, ist nach Wien gekommen, um zu studieren, und hat dann eine ziemliche imposante Karriere als Geologe gemacht. Im Naturhistorischen Museum in Wien gab es lange ein versteinertes Riesenfaultier. Darunter stand auf einem Schild, dass es von Professor Toula stammt, von irgendeiner Balkanreise. Und er war eben Tscheche.“  Gerald Schubert, Radio Praha, 10.6.2010 - 2016 erschien "Das Geheimnis der verlorenen Zeit"

 2017 nimmt John Wray an dem Ingeborg Bachmann Wettbewerb, 41. Tage deutschprachiger Literatur, in Klagenfurt teil