peter-jungkImmer noch Streik - die Vorortzüge fahren nur sporadisch. Ich bin sehr verkühlt an diesem kalten, graunebligen Sonntag, sage unsere Verabredung jedoch nicht ab. In den vergangenen Tagen las ich Peter Handkes "Immer noch Sturm", das Theaterstück in Prosaform - aber ist es überhaupt ein Stück, ist es ein Roman, eine Erzählung, ein Tagtraum? Auf einer Heidesteppe im Kärntner Jaunfeld, unter einem Apfelbaum "behängt mit etwa 99 Äpfeln", sitzt oder liegt der Erzähler. Er trägt den Namen "Ich" und zaubert sich sieben seiner slowenischen Ahnen herbei: die Großeltern mütterlicherseits, seine Mutter, sowie die Schwester und die drei Brüder seiner Mutter.

Er lässt sie in den Jahren 1936 bis 1945, und in den späten Fünfzigerjahren an sich vorbeiziehen, sie erzählen ihm in grandiosen Monologen, in spielerischen Dialogen vom Schicksal der slowenischen Minderheit im Süden Österreichs, von ihrer systematischen Unterdrückung, ihrem mutigen Partisanenkampf, der größten und effizientesten Widerstandsbewegung innerhalb der Grenzen des Dritten Reichs. Und kaum war der Krieg vorbei, entpuppten sich die britischen Mitbefreier Österreichs, diese Kalten Krieger, als neue Unterdrücker.

Und so ging es fort, im Grunde bis in die von Kärntner Ortstafelstürmen geprägte Gegenwart hinein. "Immer noch Sturm" ist ein Familienepos, vielleicht Peter Handkes geglücktestes, in jedem Fall sein persönlichstes Stück - ein Werk, das überdies seine frühesten Sprechtheater- und Prosaarbeiten mitschwingen lässt.

"Kommt nicht in Frage", entgegnete Handke, als ich ihn telefonisch um ein Gespräch über "Immer noch Sturm" bat. "Ich will dazu nichts sagen. Sei um zwei Uhr bei mir."

Verspätet treffe ich in Chaville ein - vor dem Gartentor eine Installation: gut zweihundert Wanderstäbe, Stöcke, die er bei seinen täglichen Waldmärschen aufklaubt. "Sieht wie Land-Art aus, findest du nicht", begrüßt mich der Freund und ich umarme ihn nicht. "Bist du krank? Du siehst erbärmlich aus."

Wir durchqueren den Garten, die drei Apfelbäume (Boskoop, Canada, Reinette) hängen voller Früchte. In der Küche reicht er mir ein Glas heißes Wasser mit Honig; das tut sofort gut. Auf mehreren Tellern das vorbereitete Mittagessen, wir tragen die Speisen in den Wohnraum. Der lange Holztisch war in all den Jahren, in denen Handke hier lebt, noch nie so voll geräumt. Ein geordnetes Chaos aus Tausend Objekten. Nicht so einfach, inmitten dieser Flut aus Gegenständen Platz für Teller, Gläser und Besteck zu finden.

Nach wenigen Minuten beginne ich bereits, meiner Begeisterung über den geglückten "Sturm"-Traum freien Lauf zu lassen. "Was redest du denn so salbungsvoll daher", unterbricht mich mein Gastgeber. Mein Schwärmen hat wohl etwas Linkisches an sich (ist nicht jeder Begeisterungssturm in Wahrheit eher peinlich?); ich zitiere den Kritiker Ulrich Weinzierl, Handke habe mit "Immer noch Sturm" das Versprechen eingelöst, das er einst an den Schluss seines "Wunschlosen Unglücks" gestellt habe: "Später werde ich über das alles Genaueres schreiben."

peter handkeHandke schüttelt den Kopf: "Aber das habe ich im Roman ,Die Wiederholung' doch längst getan. Und im Stück ,Über die Dörfer' natürlich auch. Unterschwellig schwingt meine Familiengeschichte immer schon mit..." Kein Zufall, dass mehrere Protagonisten seiner Romane den Vornamen Gregor tragen, den Namen seines Onkels Gregor Siutz, der nun in "Immer noch Sturm" zu den Partisanen überläuft. In Wahrheit ist der älteste Bruder seiner Mutter im Oktober 1943 an der russischen Front gefallen, doch im Traum seines Neffen vom idealen Kärntner Freiheitskampf legt sich Gregor einen Tarnnamen zu und zieht in die Wälder.

Ein seltsamer Widerspruch: Handke muss sich der deutschen Sprache bedienen, um kundzutun, wie sehr die slowenische Minderheit darunter zu leiden hatte, ihre eigene Sprache nicht sprechen zu dürfen. Immer wieder tauchen zwar knappe slowenische Dialogstellen auf, aber die Stücksprache ist natürlich Deutsch. So flucht denn etwa der Großvater: "Nie wieder jemand Deitschen hören, mit seiner Luftzerhackersprache, mit seiner Eintongabelstimme, mit seinem Trommelfelldurchstoßbrüllen, mit seinem sonoren Kreide- fresswolfsäuseln. In der Luft zerrissen sollen die Deutschen werden..."

Handke sieht darin keine Unstimmigkeit, denn es gelingt ihm, in einer Zauber-, einer ihm ganz eigenen Traumsprache zu dichten, er verrückt das Gesagte, Gedachte in einen poetischen Zwischenbereich. Und der Humor ist sein ständiger Gast, überhöht und vertieft das Geschehen mit konstant lachenden Augen.

Mein Blick fällt auf eine Schwarzweiß-Fotografie, die zu meiner Linken gegen eine kleine Vase lehnt. Vier Männer und drei Frauen sind da abgebildet. "Eine alte Postkarte?" Ich nehme das Foto zur Hand. "Das sind meine Verwandten, die Figuren meines Stücks, die Großeltern, die Onkel, die Tante, und da, ganz rechts, meine Mutter, 1936, sechs Jahre vor meiner Geburt." Er besitzt diese Aufnahme noch nicht lange, sie stammt aus dem Besitz seines erst vor wenigen Wochen 92-jährig verstorbenen Onkels Jure, der zahlreiche Familiendokumente in einer großen Truhe aufbewahrte, darunter Feldpostbriefe der gefallenen Brüder, und Fotos, Urkunden aller Art. "Warum hat er dir all diese Unterlagen nicht längst gezeigt, nicht längst geschenkt", frage ich. "Er war kein guter Mensch. Ein kalter Mensch. Und ein FPÖ-Abgeordneter noch dazu. Wir konnten wirklich nicht miteinander." Anfang November erscheint "Meister der Dämmerung", Malte Herwigs Handke-Biografie, sie wertet die so lange zurückgehaltenen Papiere erstmals aus.

peter handke geburtsurkundeHandke bedauert, dass es nur wenige Fotos aus seiner Kleinkindzeit und Jugend gibt - erst der erfolgreiche Jungschriftsteller wurde regelmäßig fotografiert und begann, sich in Fotoautomaten selbst abzulichten. In "Immer noch Sturm" überrascht eine Stelle, in der Peter Handke als junger Mann sein eigenes, keineswegs mehr junges "Ich" umkreist, "(ich) gehe um mich herum, umkurve mich, mustere mich, beschaue mich (...) boxe mich in den Bauch", es ist eine der seltsamsten Passagen in diesem an Sonderbarkeiten überreichen Werk: "Vor mir steht ein junger Mann, der bis dahin wohl hinter meiner Mutter verborgen gewesen war. Ich: ,Wer ist denn der da? Was will denn der hier?' - Meine Mutter: ,Du bist es. Du selber. Ist es denn nicht im Älterwerden dein Wunsch, dein großer, dir von früher gegenüberzustehen?'" Diese Stelle habe mich besonders berührt, bekenne ich - und Handke erzählt, den ganzen Schluss des Stücks, vor allem aber diese Selbstumkreisungsstelle erst vor kurzer Zeit geschrieben zu haben, als "Immer noch Sturm" ihm schon längst abgeschlossen zu sein schien: "Das Ende ist ganz neu. Auch dieses nochmalige Auftauchen der gesamten Sippe, am Ende. Zuerst wollte ich unbedingt alles als Tragödie aufhören lassen, nur der Erzähler und Gregor auf der Bühne. Aber so wie es jetzt ist, ist es besser."

Das seltsame Daliegen des Erzählers gegen Ende zu - und wie er sich die Ahnen herbeiträume, das erinnere ihn an den Propheten Jesaja und dessen Traum von der Wurzel Jesse: "Während mein Erzähler seine Vorfahren wiederauferstehen lässt, blickt Jesaja liegend, schlafend, auf die Generation Isais voraus, auf dessen Sohn König David, und weiter, bis hin zu Jesus Christus."

Sorgt er sich nicht, dass die Uraufführung im kommenden Sommer, bei den Salzburger Festspielen, von einem Regisseur inszeniert werden wird, den er persönlich nicht kennt, mit dem er bisher noch kein Wort gewechselt hat? Wäre Claus Peymann, mit dem er sich vorübergehend überworfen hat, nicht doch der geeignetere Spielleiter gewesen? Werde es Dimiter Gotscheff glücken, das Traumspiel umzusetzen? Handke ist zuversichtlich. "Ich hoffe allerdings, dass nicht viel gestrichen wird. Schön wäre es, wenn das Stück über viele Stunden ginge. Ähnlich wie 1982 Wim Wenders' Inszenierung von ,Über die Dörfer', in der Salzburger Felsenreitschule, die fünf Stunden andauerte. Das gefiele mir: beinahe ein ganzer Tag ,Immer noch Sturm'. Aber das Stück hätte natürlich ans Wiener Burgtheater gehört, nicht unbedingt auf die Pernerinsel in Hallein."

Es gebe in den vergangenen Jahrzehnten, stellt er fest, kaum noch "große Theaterstücke", die sich auf den internationalen Spielplänen hielten, nichts, was man mit den Werken von Tennessee Williams, Eugene O'Neilll, Edward Albee oder Harold Pinter vergleichen könne. "O'Neills ,Eines langen Tages Reise in die Nacht' etwa, wo gibt es heute Vergleichbares? Yasmina Reza? Das ist doch eher Boulevard. Ich würde mir schon wünschen, dass mein ,Sturm' so ein bleibendes Stück sein kann, in der Theatergeschichte."

handke bücher

Hauptfigur ist Peter Handkes Onkel Gregor, der in Maribor Obstbau studiert hat und damals ein ausschließlich in slowenischer Sprache geschriebenes Studienbuch verfasst hat. Auch dieser in braunes Packpapier eingewickelte Foliant befindet sich erst seit wenigen Jahren im Besitz des Neffen. Er bewahrt das Objekt an einer ungewöhnlichen Stelle auf: in einer der Ecken des Wohnraums, aufgeschlagen über der Alarmanlage. Ich hole das Buch von dort oben herunter, nehme im Fauteuil Platz, sieben Nähnadeln stecken da in der linken Sessellehne, Handke näht hier immer neue bunte Fäden ein.

Ich blättere in den mit feiner, gestochener Handschrift verfassten Seiten. Apfelnamen fallen auf, die heutzutage niemand mehr kennt, darunter aber auch die geläufige Apfelsorte Jonatan. Der "Apfelmensch" Gregor bekommt denn auch von seiner bereits bei den Partisanen untergetauchten Schwester Ursula den Decknamen Jonatan verpasst: ",Also: Ab heute heißt du Jonatan - wie eine deiner Apfelsorten. Und entsprechend wirst du aktiv werden!' Gregor-Jonatan, nach einem Schweigen: ,Apfelaktivist.'"

Peter Handke gibt mir zum Abschied einen Reinette-Apfel aus seinem Garten mit auf den Weg, gemäß dem Merksatz: "An Apple a day keeps the doctor away." - "Lass mich ja mit deinen Sprüchen in Ruhe", ruft er mir nach. Und dann winkt er noch einmal.

Peter Handke: Immer noch Sturm. Suhrkamp, Berlin. 165 Seiten

©Peter Stephan Jungk, Erstveröffentlichung Die Welt, 23.10.2010