Was für ein Leben!


Der sensible Tausendsassa Claude Lanzmann hat seine Erinnerungen verfasst und gleichzeitig eine Geschichte Frankreichs geschrieben, die einzigartig ist

© Peter Stephan Jungk

Ich bin von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiß ich nur zu gut, würden mich nicht müde machen", heißt es in Claude Lanzmanns "Der patagonische Hase"; ein Ausruf, der wie ein Echo aus allen Kapiteln dieser fulminant erzählten Autobiografie widerhallt. Die Lebenslust des heute 85-Jährigen überträgt sich auf den Leser, einem Aufputschmittel gleich, löst Sehnsucht aus, sich neue, überraschende Horizonte zu erschließen.

Lanzmann wurde 1985 durch den neunstündigen Dokumentarfilm "Shoah" weltbekannt. Davor war er Jahrzehnte lang als Journalist und Essayist tätig, hatte bis dahin nur den 1972 entstandenen Film "Warum Israel" realisiert. Wer jedoch Claude Lanzmann auf "Shoah" festlegen wollte, wird überrascht sein. Man lernt in seinen Erinnerungen, durch die er uns sprunghaft, einem Hasen ähnlich, mit großer Geschwindigkeit und zuweilen irreführender Langsamkeit begleitet, einen ungemein facettenreichen Menschen kennen, der zwar nicht hundert, aber doch zahlreiche verschiedene Leben gelebt hat. Und von Erschöpfung ist ihm in der Tat nichts anzumerken.Lanzmann bleibt stets präzise und geht schonungslos ehrlich mit sich ins Gericht. Nie hat man das Gefühl, er denke sich: Wenn es nicht wahr ist, ist es schön erfunden. Wenn man auch des Öfteren innehält und ihm zurufen möchte: Ihre Selbstverliebtheit, Monsieur Lanzmann, geht zuweilen zu weit. Müssen Sie denn immer der Tausendsassa, der große Zampano sein? Als junger Mann der mutigste Résistancekämpfer. Im späteren Leben der beste Reporter, der beste Segler, Kletterer, Taucher, Reiter, ja, auch der beste Liebhaber. Doch seltsamerweise verzeiht man ihm seine Unbescheidenheit; oft genug musste er seinen Heldenmut übrigens mit schweren körperlichen Verletzungen bezahlen. Als Siebenundsechzigjähriger fliegt er - anlässlich der Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm "Tsahal" - in israelischen Kampfjets mit: "Ich konnte mir nicht vorstellen, diesen Film zu drehen, ohne selbst zu fliegen, ich hielt es für notwendig, am eigenen Leib den Blackout zu erfahren, das Ohnmächtigwerden (...) das alle Piloten von Jagdflugzeugen kennen." Auf dem Rücksitz einer F-16 erlebt er denn auch einen "schwindelerregenden Sturzflug" mit, sein Pilot reagiert "stolz" auf seine "Kaltblütigkeit" und belohnt ihn, "indem er mich binnen weniger Minuten über den Libanon hinweg bis nach Beirut brachte, was er natürlich nicht hätte tun dürfen". Er aber hielt mit nur verhältnismäßig kurzem Bewusstseinsverlust Fliehkräfte von 7 G aus, mithin das Siebenfache seines eigenen Körpergewichts. "Alle hielten das für enorm. Ich auch."

Inmitten der Jagdflugzeug-Episode taucht unvermittelt ein Zitat aus einem Rimbaud-Gedicht auf, zwei Zeilen aus den "Läusesucherinnen" - in dieser Juxtaposition spiegelt sich Lanzmanns Persönlichkeit: Wild entschlossen und kämpferisch seit seinen Jugendjahren, zeichnet sie sich zugleich durch ihre Sensibilität, Sanftheit und einen Hang zur Poesie aus. Nicht zuletzt dieser feinfühlende Aspekt seines Wesens wird es wohl auch gewesen sein, der Simone de Beauvoir ("sie war verrückter als ich") bewogen hat, eine langjährige Liebesbeziehung mit ihm einzugehen. Und das zu einer Zeit, als sie mit Jean-Paul Sartre liiert war, der von ihrer Affäre mit Lanzmann durchaus wusste und sie zu dulden schien. Mehr noch, Sartre dürfte Lanzmann sehr geschätzt haben, ein Urteil, das auf Gegenseitigkeit beruht: Kaum ein anderer Zeitgenosse wird in den Erinnerungen ähnlich faszinierend gezeichnet wie er - wenn ihm Sartre auch einmal als "hässlich und schlecht gelaunt wie eine Bulldogge" vorkommen mag.

Lanzmann und die Beauvoir - er nennt sie Castor, der Biber, abgeleitet vom englischen Wort Beaver, das Beauvoir ähnelt, ein Spitzname, den sie seit den späten 1920er Jahren trug - lebten sieben Jahre zusammen, von 1952 bis 1959: "Ich bin der einzige Mann, mit dem Simone de Beauvoir ein fast eheliches Leben geführt hat. Über zwei Jahre lang schafften wir es, in unserem siebenundzwanzig Quadratmeter großen Zimmer zusammenzuwohnen, und wenn wir das bisweilen bemerkten und darüber sprachen, waren wir zu recht stolz darauf, wie gut wir uns verstanden."

Wunderbar jene Episode, in der Lanzmann von einer ihrer zahlreichen Reisen zu dritt berichtet. Sie waren im Vorfrühling 1953 nach Saint-Tropez gefahren, es war dort "herrlich und leer", man wohnte in einem Hotel: Sartre im Einzelzimmer, er arbeitete ununterbrochen, obwohl man Paris zur angeblichen Erholung verlassen hatte, Claude und Simone in einem Doppelzimmer. Jeweils abwechselnd aß Madame mit dem einen, dann mit dem anderen ihrer Männer zu Abend. Da aber nur zwei Restaurants am Hafen offen waren, bloß "durch ein dickes Segeltuch" voneinander getrennt, saß man gleichsam nebeneinander: "Castor hat immer eine laute Stimme gehabt, sie wusste, dass ich nebenan saß, sie hatte vor mir keine Geheimnisse: Ich verstand jedes Wort von ihr, und auch von dem, was Sartre mit seiner metallischen Stimme sagte, entging mir nichts." Am nächsten Abend war es dann Sartre, "der dazu verurteilt war, allein zu sein und jedes Wort von uns zu hören".

Lanzmann beschreibt die langjährige Dreiecksgeschichte und seine "Einigkeit" mit Sartre und Beauvoir als "idyllisch". Von ihnen lernte er, das mondäne Leben, die großen Tischgesellschaften, die in Frankreich so beliebt sind, zu meiden, sie gar zu verabscheuen. "Zu zweit zu sein und miteinander zu reden war für sie - und für mich, das habe ich von ihnen gelernt - die einzige Möglichkeit, einander zu verstehen, zu begreifen, voranzukommen und nachzudenken."

Kaum bekannt dürfte Simone de Beauvoirs Passion für den Stierkampf sein - Feministinnen unter den Lesern werden erschauern; sie war so groß, dass Castor sich "keinen Deut um die political correctness jener Zeit kümmerte, die (...) Urlaubsreisen in faschistische Länder mit einem Bannfluch belegte", und die im Töten der Stiere ein Symbol für Francos barbarisches Regime sah. Sie hatte sich im Hochsommer 1955 in den Kopf gesetzt, zwei der damals größten Toreros wochenlang kreuz und quer durch Spanien zu folgen: "Schande über uns, Schande über Castor und natürlich über mich, denn in meiner Eigenschaft als 'Gatte' teilte ich auf Anhieb, ohne langes Palaver, sondern mit dem begeisterten Willen zu lernen, die Leidenschaft der großen Simone de Beauvoir für den Stierkampf."

Auch beruflich kam man sich sehr nahe: Arbeitete Lanzmann zunächst noch als Redakteur und lieferte regelmäßig Beiträge für Sartres und Beauvoirs 1945 gegründete Monatsschrift "Les Temps Modernes", so sollte er 1986, nach Castors Tod, Herausgeber dieser einflussreichen Publikation werden. Er leitet sie bis heute. Lanzmann gab seiner langjährigen Freundin - ihre Nähe währte bis zum Schluss - nicht selten die Titel zu ihren Büchern vor, sie sprach ihm Mut zu, wie niemand sonst, als er begann, sein Projekt "Shoah" in Angriff zu nehmen, sie motivierte ihn immer wieder, keinesfalls aufzugeben, als die Dreharbeiten wiederholt zu scheitern drohten.

Jene Passagen, die um die zwölf Jahre währende Arbeit an "Shoah" kreisen, zählen zu den aufregendsten dieses an Dramatik so überreichen Lebensberichts. Die letzten vier Kapitel sind nahezu ausschließlich Lanzmanns Hauptwerk gewidmet, zeichnen seine Entstehungsgeschichte akribisch nach, ohne je zu langweilen. Hin und wieder überspringt man vielleicht die eine oder andere Seite, doch kaum wirft man einen Blick zurück auf ungelesene Absätze, bereut man es sogleich: und blättert nach hinten, um nur ja keine Zeile auszulassen.

Man entdeckt immer neue Bücher in diesem humorvollen, todtraurigen Werk, das Epos einer höchst originellen jüdischen Familie, das Erlebnis der Jahre 1947 bis 1949, die Lanzmann im zerstörten Nachkriegsdeutschland verbracht hat, die Tragödie um den Bürgerkrieg in Algerien, den Überlebenskampf des immerwährend gefährdeten Staates Israel. Und man stößt nicht zuletzt auf jene hundert Seiten, die ihrem Autor womöglich mehr am Herzen liegen, als alles Andere in seiner Autobiografie: Anlässlich einer Reise nach Nordkorea, im Jahre 1958, verliebte er sich unsterblich in die junge Krankenschwester Kim Kum-sun. Realisierte er je wieder einen Film, verrät er im persönlichen Gespräch, nichts würde er lieber umsetzen, als diese wunderbare, zugleich hochspannende Liebesgeschichte: als Spielfilm. Viel Zeit bleibt ihm nicht, dessen ist er sich schmerzhaft bewusst: "Dem Leser wird klar sein", heißt es einmal, "dass ich das Leben geradezu verrückt liebe, auch jetzt noch, da der Abschied von ihm nahe ist."

Dem Tod fühlt sich Lanzmann seit dem Selbstmord seiner Schwester im November 1966 nahe. Die damals nicht unbekannte Theaterschauspielerin Evelyn Rey, eine heimliche Geliebte Sartres, hatte sich vergiftet - ihr Bruder fühlt sich bis heute mitschuldig, dass er den Verzweiflungsakt nicht verhindern konnte. Erschütternd die Schilderung der zehn Tage nach Evelyns Tod, in denen Lanzmann nicht zulassen wollte, dass seine Schwester begraben wird. Sie lag in ihrer Wohnung aufgebahrt, bis "der süßliche Geruch ihres Leichnams" die Räume zu durchschweben begann.

"Der patagonische Hase" kann nicht zuletzt als ein äußerst differenziertes Porträt Frankreichs seit 1930 gelesen werden. Selten hat man die Grande Nation so unmittelbar begriffen, in ihren filigranen Verzweigungen erfasst, sie so überdeutlich kennengelernt. Das Gleiche gilt für das alte, für immer verloren gegangene, romantische Paris der Nachkriegszeit - kaum je wurde es uns so nahe gebracht. Was aber hat es mit dem Hasen des Titels auf sich? Lanzmann gibt darüber ganz am Ende Aufschluss: "An Hasen habe ich jeden Tag gedacht, als ich dieses Buch schrieb, an die Hasen im Vernichtungslager Birkenau, die unter dem Stacheldraht durchschlüpften, der für Menschen unpassierbar war. (...) Schließlich dachte ich an das mythische Tier, das hinter dem patagonischen Dorf El Calafate im Licht meiner Scheinwerfer auftauchte und mir die Gewissheit buchstäblich ins Herz trieb, dass ich in Patagonien war (...) Ich war fast siebzig, aber mein ganzes Sein hüpfte vor wilder Freude, wie mit zwanzig Jahren."

Im Vorwort weist Lanzmann darauf hin, seine Memoiren diktiert zu haben, doch sie lesen sich - vor allem im französischen Original - wie das Buch eines begnadeten Schriftstellers. Er dürfte seine gesprochenen Gedanken, Erinnerungen, Erzählungen in der Endphase minuziösen Korrekturen unterzogen haben, anders kann es wohl kaum sein. Ein Zeitdokument der außergewöhnlichen Art ist ihm dabei gelungen, künftige Generationen werden darauf zurückgreifen, um unsere Epoche besser zu verstehen. Es liest sich aber zugleich als eminent literarisches, magisches Geschichten-Füllhorn, das man getrost und ohne zu übertreiben in die Reihe der großen Werke der Weltliteratur aufnehmen kann.

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Aus dem Französischen von Erich Skwara, Claudia Steinitz, und Barbara Heber-Schärer. Rowohlt, Reinbek. 688 S., 24,95 Euro.

 

Peter Stephan Jungk wurde als Sohn des Zukunftsforschers Robert Jungk geboren. Er wuchs zunächst in den Vereinigten Staaten und nach 1957 in Wien auf. In Berlin besuchte er von 1968 bis 1970 die Rudolf-Steiner-Schule, von 1970 bis zu seiner Matura 1972 lebte er in Salzburg. 1973 arbeitete er als Regieassistent am Basler Theater. Von 1974 bis 1976 studierte er am American Film Institute in Los Angeles.

Von 1976 bis 1979 war er erneut in Salzburg ansässig. 1977 wirkte er als Peter Handkes Regieassistent bei der Verfilmung von Handkes "Die linkshändige Frau". 1980 besuchte der gebürtige Jude Jungk eine Thoraschule in Jerusalem. 1981 übersiedelte er zurück nach Wien. Seit 1988 lebt er mit seiner Frau, der Fotografin Lillian Birnbaum, in Paris. 1994 wurde die Tochter Adah Dylan geboren.

Peter Stephan Jungk ist Verfasser von Romanen, Essays und Drehbüchern, bei deren Verfilmung er teilweise selbst Regie führte.