Schuld und Sühne - Verbrechen und Strafe - Übertretung und Zurechtweisung - Der Gespaltene?*
Prague Writers’ Festival
1991 brachte der damals in London lebende Dichter Michael March seine Schriftstellerfreunde aus New York und dem Rest der Welt ins damals noch graue Prag - das "Prague Writer's Festival" ward aus der Taufe gehoben. Mitte der 90er Jahre etablierte sich Prag im Spitzenfeld des europäischen Städtetourismus mit einem von Jahr zu Jahr umfangreicher werdenden Veranstaltungskalender. Michael March ein Leser, in dessen Bibliothek Bücher aus der ganzen Welt - nach deren Lektüre - akurat eingereiht werden, hat seit 1991 Jahr für Jahr, Literaturnobelpreisträger, in Tschechien zum Teil noch unbekannte Dichter und Autoren nach Prag geholt, sich dafür eingesetzt, dass deren Werke ins Tschechische, das eine oder andere Mal ins Englische übersetzt worden sind. Jedes Festival hat ein mit Sorgfalt ausgewähltes Motto, das den Teilnehmern als Einstieg in Diskussionen dient, um sich in Gesprächen, Lesungen mit einem gegenwärtigen Gesellschaftsthema auseinanderzusetzen, sich diesem anzunähern.
2004 ist Tschechien der Europäischen Union beigetreten, die Grenzbäume zu Polen, Slowakei, Österreich und Deutschland wurden beseitigt. Seit 2015 wird an den tschechischen Grenzen wieder kontrolliert: aus Angst vor dem Flüchtlingsstrom, den Fremden, speziell aus dem arabischen Raum. Das Nationale spielt sich in den Vordergrund und - in einem Land, in dem die Religion im letzten Jahrhundert keine Rolle gespielt hat, geht die Angst vor dem Islam um. Nach dem Dissidenten und Schriftsteller Václav Havel (Präsident von 1989 bis 2003, im Dezember 2011 verstorben) steht mit Miloš Zeman einer aus der alten kommunistischen Ära in vorderster Front, der seine Verbündeten in Putins Russland und dem China von Xi Jinping sieht.
Die Hunderttausende, angeführt von Studenten und Intellektuellen, die 1989 die Samtene Revolution bewirkt haben sind verstorben, abgetreten oder haben sich zurückgezogen in träg gewordene Institutionen. Ein Großteil der heutigen Jugend ist politisch desinteressiert. Ein gut bezahlter Job, Unterhaltung und Sport bewegt die Mehrheit, was sich in der stetig sinkenden Wahlbeteiligung ausdrückt. Literatur wird von einer engagierten Minderheit gelesen und nachgefragt. In einem Vierteljahrhundert vom Kommunismus direkt hinein in die bunte Scheinwelt des Konsums. Michael March, Jahrgang 1946, ist einer der dagegen hält, trotzt den Auseinandersetzung mit Institutionen, die die meiste Energie in ihren Erhalt fließen lassen. Er widersteht den Gewohnheiten und vermeintlichen Sicherheiten, die den eigenen Geist unmündig machen - mit jedem Festival aufs neue, 2016 zum sechsundzwangigsten Mal. Ein Großteil der Veranstaltungen findet im Waldsteinpalais, dem Sitz des Senats des Parlaments der Tschechischen Republik statt - der dafür Miete kassiert.
Ins Programm geschaut: Prague Writers' Festival 2016
Das Festival startet mit einer vom tschechischen Hochschullehrer, Autor, Kommentator Tomáš Sedláček - international bekannt geworden durch sein Buch “Die Ökonomie von Gut und Böse” - moderierten Diskussion. An dieser nimmt der aus Ägypten stammende Dichter Mohamed Metwelli und der amerikanische Autor Chuck Palahniuk, der aus Algerien stammende Kamel Daoud teil. *1993 erschien Dostojewskis “Schuld und Sühne” in einer neuen Übersetzung von Swetlana Geier mit dem Titel “Verbrechen und Strafe”. Ulrich Busch schlug in einem Artikel der Zeit vom 7.1.1994 vor, diesen Roman mit “Übertretung und Zurechtweisung” zu betiteln. Das zeigt auf, wie schwierig die Arbeit des Übersetzens ist und welche Rolle der Bedeutungswandel - Zeitläuften entlang - in der Gesellschaft spielt. Kurz nach Erscheinen im Jahre 1886 lautete der Titel der deutschen Übersetzung noch “ Raskoľnikow” - Der Gespaltene.
Was spaltet unsere Gesellschaft? Es geht nicht um die eine Antwort sondern um das Aufzeigen der Möglichkeiten, das Verstehen zu vertiefen, neue Perspektiven zu öffnen um dadurch das eigene Weltbild zu weiten. Zuhören und lesen, miteineinander reden mit und ohne Übersetzer.
Auf dem Schreibtisch u.a. drei Bücher in tschechischer Sprache, die vor dem Festival, erschienen sind. “Mersault, přešetření” von dem algerischen Journalist und Autor Kamel Daoud, übersetzt von Alexandra Pflimpflová. Es ist eine intensive Auseinandersetzung und Fortsetzung mit dem im Jahre 1942 erschienen Roman von Albert Camus “Der Fremde”. Dem namenlosen Opfer “einem Araber” wird im “Der Fall Mersault” ein Name “Moussa” zugeteilt, von Haroun - dem Erzähler und Bruder: “Es ist ganz einfach: Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden, in der gleichen Sprache, aber dieses Mal, wie das Arabische von links nach rechts.” “Wenn er im Buch meinen Bruder den Araber nennt, dann macht er das, um ihn zu töten, so, wie man die Zeit totschlägt, wenn man sich ohne Sinn und Zeit herumtreibt.” Die Gleichgültigkeit, die in Gewalttätigkeit mündet, das ist die Annäherung der Charaktere aus Camus “Der Fremde” und Daouds “Der Fall Mersault”. Kamel Daoud, der in einem Zeit Interview im Frühjahr 2016 sagte “Ich lebe in der arabischen Welt. - Frankreich ist heute ein von Eliten blockiertes Land, das auf seine Probleme keine Antwort findet. - Was machen wir mit dem anderen anderen”.
Aus Peking wird der chinesische Autor Yan Lianke anreisen, ihm wurde 2009, als China Partnerland der Frankfurter Buchmesse gewesen ist, die Teilnahme an dieser verweigert. Die Zensur in China hat einige der Bücher, des aus Henan stammenden Bauernsohns, verboten. Nach einigen Jahren als Wanderarbeiter trat er in die Volkbefreiungsarmee ein, und begann - zuerst im Einklang mit dem Regime - zu schreiben. Bis zu seinem 33. Lebensjahr schrieb er, wie er es in einem Gespräch mit Iris Radisch ausdrückt “völlig systemkonform”. Nach einem Bandscheibenvorfall, beschliesst er ein richtiger Schriftsteller zu werden. Unter vielen anderen Preisen erhält er im Jahre 2014 in Prag den Franz Kafka Preis. Sein zuletzt erschienener Roman “Vier Bücher” (in China verboten) wurde von Zuzanne Li 2013 ins Tschechische übersetzt und ist bei Verzone erschienen. Zwanzig Jahre hat Lianke dieses Buch entworfen, an ihm geschrieben - ohne an die Zensur zu denken. Es wurde von zwanzig chinesischen Verlagen abgelehnt, vor allem wegen der beschriebenen Ereignisse zwischen 1958 und 1962 als 40 Millionen Menschen verhungerten. Für all die Opfer will Lianke mit diesem Buch ein Zeichen setzen.
Klub rváčů (im Original Fight Club) des amerikanischen Autors Chuck Palahniuk wurde zuerst im Jahre 1996 von Jindřich Mand’ák übersetzt, danach von Richard Podaný und erschien im Verlag Volvox Globatour. Der Roman wurde 1999 vom Regisseur David Finch verfilmt und das Studio Činhoherni hat es erstmals im Jahre 2007 auf eine tschechische Bühne gebracht. Neben Lesungen mit Chuck Palahniuk wird im Theater Celetné in Zusammenarbeit mit dem Studio Činhoherni die tschechische Theaterufführung im Rahmen des Festivals zu sehen sein. “Hör auf perfekt zu sein. Entwickeln wir uns, lassen wir die Dinge einfach laufen” ein Zitat aus Fight Club, dem Palahniuk folgt. Im Mai 2016 startete er erfolgreich eine Kickstarter Campaign um “Lullaby” basierend auf seinem Roman (2002) zu verfilmen, dazu hat er das Filmskript selber verfasst. Chuck Palahniuk, ein Autor, der mit seiner Webseite, in den sozialen Medien seinen eigenen Weg geht.
Von der Öffenlichkeit zurückgezogen schreibt der aus Südafrika stammende, seit 2002 in Adelaide lebende Literaturnobelpreisträger des Jahres 2003 J.M. Coetzee an seinen Büchern. Schuld und Scham haben Coetzees Kindheit begleitet. Über Kafkas Erzählung “Der Bau” schrieb er einen Essay; die klare, nüchterne Art des Schreibens verbindet die beiden Schriftsuchenden. Erfahrungen einer in sich gespaltenen Welt transzendiert durch Literatur. Coetzee ist der Abschlußabend im Agneskloster gewidmet.
Jüngste Teilnehmerin ist die aus Kiew stammende Dichterin Marie Iljašenko, die in Prag lebt. Mit ihr habe ich mich vor dem Festival für ein Gespräch verabredet, ihre in tschechischer Sprache verfassten Gedichte haben mich berührt.
Nach dem Festival
An dem Tag, an dem die Frankfurter Buchmesse eröffnet wird, Dienstag 18. Oktober 2016, geht mit einer Lesung von JM Coetzee das 26. Prague Writers’ Festival zu Ende - in den atmosphärisch ansprechenden Räumen des Agnes Kloster, heute ein Teil der National Galerie.
Das von Michael March, Präsident des Festivals seit dessen Beginn im Jahre 1991, vorgegebene Leitmotiv “Schuld und Sühne” oder in einer andern Übersetzung von Dostojewkis Roman “Verbrechen und Strafe” wurde von den teilnehmenden Autoren nicht diskutiert. Der Senat des Tschechischen Parlaments, einer der Hauptsponsoren des Festivals, wiederum hatte Einwände gegen den ersten Plakatentwurf, Hitler und Stalin als spielende Barockengel gezeichnet, wurde ersetzt von einem Foto einer jungen Schauspielerin aus Kairo, ihre rote Lippen umrahmt von arabischen Schriftzügen schmückten die Veranstaltungsankündigungen.
Die Podiumsdiskussion zur Eröffnung des Festivals, moderiert von Tomáš Sedláček entwickelte sich zu einem launigen Gespräch, eingeleitet mit der Frage “mögen Sie Bier, tschechisches Bier?”. Lachen und gute Stimmung im Waldstein Palais, dem Sitz des Senats des Tschechischen Parlaments. Die Diskussion wurde zu einem Geplauder mit Showcharakter: Religion und Sex wurde von den teilnehmenden Autoren Chuck Palahniuk, Kamel Daud und Mohamed Metwalli besprochen. Nach der Diskussion wurde bei Bier und Wein locker Small Talk betrieben.
Am folgenden Tag, las die in Prag lebende, in Kiew geborene Dichter Marie Iljašenko drei ihrer Gedichte. Dem Moderator Petr Vizina versicherte sie, dass sie nichts zum Thema des Festivals zu sagen hat, zumal sie Dostojewski als einen destruktiven Autor betrachtet. Diese Lesung fand in tschechischer Sprache statt. Es folgte der aus Kairo stammende Dichter Mohamed Metwalli, der mit Mohamed El-Baaly in arabischer Sprache ein Gespräch führte, das in tschechische Sprache übersetzt worden ist. Ich hörte die tschechische Fassung dieses Gespräches. Metwalli erklärte “als Dichter interessiert mich der menschliche, nicht der politische Standpunkt”, dies wurde untermauert von den zwei Gedichten, die er dem Publikum vortrug.
Die tschechische Fassung der darauf folgenden Gespräche und Lesungen mit dem chinesischen Autor Yan Lianke und der auf französisch geführten mit dem aus Algerien stammenden Kamel Daud liegt mir nicht vor, doch was ich mitbekam, gingen die auf ihre eigene Bücher, eigene Erfahrungen ein - keine Stellungnahme in bezug auf “Verbrechen und Strafe”. Am Abend eine Show des Autors mit Popstar Qualitäten: Chuck Palahniuk. Er las und lief dabei zu Spitzenform auf, angeturnt vom Lachen der Zuschauer. Die aus dem Publikum gestellten Fragen versuchten seine provokanten Aussagen über Sex zu übertreffen. Auf manche der Fragen ging Chuck Palahniuk nicht ein, im Anschluß daran ein Happening mit den Fans. Geduldig ließ er sich fotografierten, signierte.
Der Abschlußabend mit dem Literatur Nobelpreisträger aus dem Jahre 2003 JM Coetzee dezent, elegant. Er wollte während des Lesens nicht fotografiert werden und las zwanzig Minuten aus seinem neuesten Roman "The Schooldays of Jesus". Mit ihm gab es kein Gespräch, keine Diskussion. Er will alleindurch sein Schreiben sprechen - nicht mehr, nicht weniger.
Auf dem Nachhauseweg leichter Regen. In Gedanken bin ich bei den Büchern, die zu lesen ich mich freue. Ich bin ganz beim Lesen angekommen - die gezückten Handys, die Selfies mit den Autoren, die Show - das ist nicht meine Welt. Reden, ja Reden wurden gehalten - jeder sprach für sich, zu einem Dialog ist es nicht gekommen on stage während des Festivals. Sie entwickeln sich in mir, beim Lesen in der Stille. Das nicht Diskutierte hat auf den Spalt verwiesen, das unsere Gesellschaft an den Rändern auseinandertreibt.
Link zum Prague Writers' Festival
Lesungen
bieten in Prag ganzjährig unter anderem folgende Institutionen an:
Writers' Festival 2023: Eine Lesung mit Gary Younge, 3.11.2023 19 Uhr,
The Globe Bookstore, Pštrossova 1925/6, 110 00 Nové Město, Praha
Budoucnost Festivalu spisovatelů Praha
Vlasta Brtníková March Glosa | Festivaly