OSIP MÍŘÍ NA JIH

MARIE ILJAŠENKO: Sprachspuren, verdichtend

Ich treffe Marie in einem kleinen Café in Žižkov. Unser Gespräch entwickelt sich im Tschechischen. Das ist die Sprache, in der Marie, 1983 in Kiew geboren, ihre Gedichte schreibt. Die ersten Kindheitsjahre waren Russisch geprägt. Als sie in Kiew eine von ihren Eltern ausgewählte ukrainische Schule besuchte, war das für sie ein Schock. Der Schock bezog sich auf die ukrainische Sprache, die sie in ihrem Elternhaus nie vernommen hatte und in der Schule gesprochen wurde. Diese Art von Sprachschock wiederholte sich beim Umzug nach Prag, Anfang der 90er Jahre. Iljašenkos Urgroßvater väterlichseits hatte tschechische Wurzeln und ihr Vater folgte einem Aufruf von Präsident Havel, nach der Samtenen Revolution, nach Tschechien zurückzukehren. Mütterlicherseits reichen die Wurzeln nach Polen. Zwischen sich wechselnden Sprachen und Ländern, die sich  selber innerhalb ihrer Grenzen in den letzten drei Jahrzehnten verändert haben, nimmt in Maries Welt Heimat keinen ortsspezifischen Raum ein.

Marie, bewegt, wenn nicht reisend, Orte und Räume herbeischreibend.

Osip

Osip, erzählt sie, so hieß ihr blauer Vogel, der eine Verbindung aus der Ferne zu Mandelstam herstellt. Gedankenreisen komprimieren und abstrahieren, das ist was Marie in der Lyrik findet.

In Prag arbeitet sie für einen Verlag, editiert Bücher und zuweilen übersetzt sie aus dem Russischen, Polnischen, Ukrainischen. Im September 2016 erschien der von ihr aus dem Ukrainischen ins Tschechische übersetzte Essayband Ukraine im Maßstab 1:1.

Das mir nahe Czernowitz kennt sie, Verwandte von ihr leben in der Nähe von der Stadt in der Westukraine, die zu k.u.k Zeiten als Klein Wien bezeichnet worden ist. Mit Freundinnen ist sie in einem Kaffeehaus unter einem Bild von Kaiser Franz Josef gesessen. In der Geburtsstadt von Paul Celan, der u.a. Gedichte von Ossip Mandelstam ins Deutsche übersetzt hat.

marie_iljasenkoFür das Motto des diesjährigen Prague Writers’ Festivals “Schuld und Sühne” fehlt ihr der Bezug. Bestrafung führe nicht in eine bessere eine Welt, es erinnere sie an die Bedeutung von Schuld in der katholischen Kirche, deren Weg durch Opfer gekennzeichnet ist. Das ist nicht ihre Welt. Marie geht auf Distanz  zu politischen Äußerungen.  Nach dem Prager Festival, an dem sie als Dichterin teilnimmt,  wird sie den November in Wiesbaden verbringen. Eine Annäherung an die deutsche Sprache probieren. Erste Erkundungen über “der, die, das” verwirren sie.

Wenn es der Körper erlaubt, läuft Marie gerne - weg vom Winter, weg von der Kälte. So werden wärmende Sonnenstrahlen zu einem Dach, ohne Ortsangabe, untermalt vom Zwitschern des Vogels.

 

Milena Findeis
Prag, September 2016

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