Tausend Tage
... seit 24. Februar 2022, als Russland den Krieg in der Ukraine großflächig ausweitete, der 2014 begann
Seit dem ersten Czernowitz-Besuch 2010 bin ich in die Geschichte und die Landschaft der Ukraine eingetaucht. Wegweisend der Dichter Igor Pomerantsev, Dichter, Radio-Kultur-Produzent, der nach Verhaftung durch den KGB von der damaligen Sowjetunion des Landes verwiesen wurde:
Okkupanten aus einem anderen Land drangen in die Ukraine. Ja, sie sprechen eine hier verständliche Sprache, aber sie sind hier fremd, sie sind Eindringlinge. Ukrainische Soldaten wissen, wofür sie sterben können. Die Feinde jedoch hätten auf die Frage „Wofür kämpft ihr?“ keine Antwort. Die Antwort werden sie vermutlich verschweigen: „Wir sind zum Rauben und Morden hier.“
Jedes Jahr im September werden in Tschernowitz Gedichte gelesen. Es ist mittlerweile eine Tradition geworden. Der Krieg verleiht scheinbar den halbvergessenen Worten, die wir nur aus Militärwörterbüchern und alten Gedichten kannten, wieder Sinn. Eines dieser Wörter ist das Wort „Front“. So wird die vorderste Gefechtlinie bezeichnet. Es gibt gleichzeitig eine andere, offenere Bedeutung dieses Wortes. Frontmenschen kann man alle Menschen, von Charkiw bis New York, nennen, die mit dem Gedanken an die Ukraine einschlafen und nach dem Erwachen den Tag mit den Kriegsnachrichten beginnen. Auch die von uns gelesenen Gedichte klingen jetzt -- ob es uns recht oder nicht ist – wie Frontgedichte. Alle poetischen Klassiker, selbst Schewtschenkos Kirschgarten oder sein Testament gehören nun zur Frontlyrik. Warum? Weil Lyrik dem Tod widersteht, und der Krieg ist Tod. Die Lyrik besitzt zwar weder Haubitzen noch geflügelte bzw. flügellose Raketen noch Streubomben, dafür aber hat sie hochpräzise Wörter, gegen die Waffen machtlos sind.
Mein erster Luftschutzkeller, Igor Pomerantsev
Im Frühjahr 2024 in Prag eine Begegnung mit der Autorin Waltraud Mittich, ihre Spurensuche nach dem Vater führt nach Kyjiw, nachzulesen in dem Roman Ein Russe aus Kiew.
Post aus der Ukraine
Frühling 2022
Waltraud Mittich
Ich wünsche dir
einen friedlichen Himmel
schreibt mir jemand.
Ja, wie denn sonst sollte
der Himmel wohl sein?
Himmelblau,
wolkenlos,
auch grau, bewölkt,
dunkel und düster.
Aber meist doch eher so:
Ich wünsche dir den
Himmel auf Erden.
Sich himmlisch fühlen.
Himmelfahrtskommando,
da sind wir dem näher
was er gemeint hat
der Briefschreiber mit
friedlichem Himmel.
Den friedlich ist
die Stille
auch der Vögel
Schreie
nächtens
Fratzenhimmel IX
Waltraud Mittich
Am linken Ufer
des Dnipro
dünnhäutige
Eisschollen
festhalten
am gelben
Himmel
über
der Stadt
ehe der Mond
wächst
blaue Fratze
im Gelb
der
Himmel
kennt
keine
Günstlinge
Kriegswinter
Waltraud Mittich
Weil atmen eine
kostbare Sache
ist, schreibt der
Krieger,
atmen, leben,
den ersten
Kriegswinter
überlebt.
Wir Anderen
hier
atmen flach,
aus Gewohnheit,
die Luft zum Atmen
Atemluft für alle
Luftikusse.
Dem Winter sehen wir
aus dem Fenster.
Es schließt gut.
Wir sperren sie weg
die Winter
der Anderen.
Aufatemen. Überleben.
Leben.
Kostbares.
Charkiw, so fern, so nah
Waltraud Mittich
Je tiefer der Herbst
umso dunkler die
Schneewolke über
Charkiw.
Die alten Apfelbäume,
schwer von ungepflückten
Früchten.
Der Feind kam zu früh.
Und nun: zehn Tausend
Paar zuverlässiger Schuhe,
als unabdingbares Hilfspaket,
betend, einfordern,
himmelwärts zur
Wolke schauend.
Sich auf den Winter
vorbereiten und nicht
schneeblind werden.
Das können sie.
Sie sind Ukrainer.
Mein Leben hat sich nach dem Maidan verändert, ich lernte die Meldungen in Zeitungen, sozialen Medien, die Worthülsen von Menschen zu hinterfragen, von manchen habe ich mich zurückgezogen. Die Werte, die sich die Europäische Union auf die Sternenfahne geschrieben hat, wird von Menschen in der Ukraine gelebt. Das Herz ist bei ihnen, den Verbliebenen und den Gefallenen.
1000
Tausend, dröhnende Zahl
Jahre, Tage
Gefallene verrechnet in Statistiken
Einzelne Gesichter
füllen den Raum zwischen
Augenbrauen und Hinterkopf
Klare Befehle, Anspannung
Angriff abgewehrt
Wucht des Aushalten
Abzählreime enden bei 10
der Krieg geht weiter
Algorithmen bilden die Struktur
Jenseits der Kampfzonen
wird ab- und weggeblendet
vom Überlebensmodus der Hinterbliebenen
in den
Konsum Modus
der europäischen Intellektuellen
BegriffsGRENZEN
Aus dem Inneren
heraus
scheiden Ideen
(un)bewußt
Nicht Wahrgenommenes
zeugt von der Macht
einer Finsternis
in die selten
ein Lichtstrahl fällt
Momentig schmerzt
die Erhellung
das Auge der Empfindung
Geblendet zerfällt
der Augapfel
wenn Licht konzentriert
einfällt in
das Äußere der
Regenbogenhaut
Von Achtung
entblößte Ahnung
zerfleischt
jedes Beginnen
Nichts das mehr wuchert
als die reine Logik
der widersprüchlichen Gefühle
am Angelhaken der Ängste
Prag, 19.11.2024 Milena Findeis