Milena Jesenská Hommage
Jiří Gruša
Die Schöne und der dumme Hans
Manche meinen, dass Kafkas Stil in großem Maße auf dem wörtlichen Verständnis von Redewendungen basiere. Ich will diese Interpretation nicht überstrapazieren, doch “die böhmischen Dörfer” als Sinnbild der Greifbarkeit und Unbegreiflichkeit zugleich waren im Jahr 1918 – und eben im Böhmischen – ein existenzielles Thema. Sie wollten nicht einmal “böhmisch” sein, sondern tschechisch.
Juden und Deutsche bekommen von verschiedenen Seiten zu spüren, dass sie unerwünscht sind. “Der Venkov hat recht”, schreibt Kafka an Milena, “auswandern, auswandern!” Während er sich von Milena löst, Prag zu verlassen sucht und der Schwindsucht (souchotě) anheimfällt, arbeitet er am Schloss. Die Hauptfigur, ein Landvermesser, gerät in ein unerträgliches Dazwischen. Das Schloss als Sitz einer undefinierten Macht ist unnahbar, das Dorf, in dem er zu warten hat, unheimlich. Die Frauen sind entweder zu direkt oder zu zweideutig. Der Landvermesser stirbt an Erschöpfung.
Doch in den Tagen mit Milena spürte Kafka, dass dieses “tschechische Dorf” nicht nur der Ort des Profanen ist, sondern auch die Stätte, wo sich das Karussell von Scham und Schuld, das jüdisch patriarchalische Dilemma, viel langsamer dreht … wenn überhaupt. Den Vater hält man hier einfach (erinnern Sie sich an Švanda?) für den Sohn einer sicherlich noch denkwürdigeren Mutter. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir jemals eine Hexe verbrannt hätten. Und unser Sagengut (aber bitte nicht das Linda’sche), beginnt es nicht mit einer Seherin? Wir probten zwar gegen Libussa einen Aufstand: “Wehe uns Männern, die ein Weib verjochet, langes Haar und kurzes Sinnen”, das Ergebnis jedoch war mager. Noch immer scheint die Außenwelt, die literarische besonders, von unseren Frauen beeindruckter zu sein als von uns, den Tschechenmannen.
Und war es nicht die “Mutter M”, die erreicht hatte, dass Kafka endlich “wie ein Säugling” schlief. Nicht “wie ein Dudelsack”, wie es seit Jahrzehnten in den Briefen an Milena steht, gutmütig, aber falsch von Brod übersetzt. Denn in dem Schreiben an ihn, das Brod der Ausgabe beigefügt hat, sprach sie bestimmt über dudek und nicht über dudy. Und dudek ist ein Wiedehopf, oder, wie in diesem Zusammenhang, ein Säugling, der gestillt, zufrieden schläft. Dudat ist auch saugen.
Mit Recht reihte Kafka Milena in diese Tradition. Der “herrlichen, unterdrückten”, die sich “unterdrücken lässt”. Und instinktsicher wehrte er sich dagegen, mehr als eine Liebe auf Distanz zu versuchen. Aber die Früchte seiner Nähe zu Milena, Das Schloss und die Brief sowie Milenas mutiger Lebensweg bleiben. Sie sind das Exemplum der tschchisch-deutsch-jüdischen Liaison allem zu Trotz.
Drehen Sie sich jetzt um – denn Sie sind noch immer am unteren Ende des Wenzelsplatzes –, und folgen Sie Milena zu ihrer Wohnung auf dem Malteserplatz. Dies war ihr Weg, nachdem sie Wien verlassen hatte. Der Schönen gelang es endlich, den Bann des “magischen Basiliskus” zu brechen.
Von Polak belächelt, von Kafka ermutigt, etablierte sie sich in Prag als Übersetzerin und Life-Style-Journalistin. Sie zog in die Nummer 13, das Haus in der Nachbarschaft der Sieben Teufel. Bald munkelten die Kleinseitner, die Nymphen und Satyren vom Deckengemälde nebenan seien zu Milena gezogen, denn ihre Gäste galten als extravagant. Milena aber beschloss, nicht nur einfach, sondern auch glücklich zu leben. Und mit der zweiten Maxime hatte sie Erfolg. Die Heimatstadt kam ihr zwar bieder vor (“Ach, meinen Tschechen ragt das Stroh aus den Schuhen!”), aber das wollte sie ändern. Und Prag war optimistisch, aufnahmebereit und schön. Ähnlich Milena, die, schlank und tadellos gekleidet, ihren “herrlichen Körper” zur Schau trug. Man hat sie nicht nur bewundert. Wir sind in Prag, hier wird tüchtig verleumdet – auf die freundlichste Weise. Milena störte das nicht. Entschlossen zum Glücklichsein, lüftete sie den Provinzmief raus. Sie verteidigte Juden und lud große Deutsche ein, Werfel, Schwitters und Broch, Laban oder Feuerstein erschienen bei ihr. Die neue Sachlichkeit faszinierte sie, das Bauhaus, die Surrealisten, Majakowski.
Der Weg zur Einfachheit war steil und fröhlich. Sie lebte, sie tanzte sich in die Stadt hinein. Endlich glich der Malteserplatz den besten Tagen in der Wiener Lerchenstraße.
Und endlich tauchte auch wieder ein Mann auf, den sie verehren konnte. Er war jung, begabt, schwor auf das “Bauhaus” und sollte bald selber Häuser bauen. Auch er sehnte sich nach Einfachheit. War schlicht und spontan. Einmal im Kaffeehaus, fiel den beiden ein ein, dass es genau zu diesem Zeitpunkt schön sein müsste, an dem Štrba-See in der Hohen Tatra zu plaudern. Und sie riefen ein Taxi.
Milena heiratete erneut und Der Weg zur Einfachheit erscheint als Buch, dem Vater, dem “teuren Papa”, gewidmet. Sie will ein Kind und eine Welt, gerecht wie Jaromír, der Gatte. Der hat Visionen: Die Armen werden reich und wir, die Schöpfer der Einfachheit – nicht ärmer. Milena bestärkt, ja beflügelt ihn. Die Dinge entwickeln sich gut, Krejcar darf bauen und errichtet ein Haus, erlesen und einfach – als Wahrzeichen der Zeit, die das Schlichte predigt, als hätte sie gespürt, dass das Chaos, der Urstoff aller Komplikationen, sie bald verschlingen wird.
Natürlich verlassen die Krejcars die Kleinseite und ziehen in die Spálená, wo sich das Musterwerk - Jaromírs Olympik - erhebt. Hier sind der Mann und die Leistung unübersehbar, der Anspruch, noch Größeres zu bauen, wird nur bekräftigt.
Die Samstage "Chez Madeleine", Milenas Feste der Findigkeit und Ungezwungenheit, sind hier noch begehrter. Es kommen Genies, Genossen und manche Ganoven der Nachkriegszeit. Die Zukunft wird erörtert, sowjetisch erfasst. Denn wo sonst könnte man noch bessere, noch schlichtere Häuser bauen als im Land der Räte, wo sich das Volk erhob und eine Welt schuf, in der “der Morgen bereits das Gestern meint …” So schnell, so atemberaubend schreitet dort der Fortschritt voran! Verglichen mit dem tschechischen Schneckentempo spürt man in Moskau den Puls des Wandels. Dahin! Dahin!
Milena ermutigt Krejcar, lächelt, erwartet ein Kind von ihm - und große Werke. Alle um sie herum sind Menschen von Format, sie wollen Prag zur Drehscheibe Europas machen, und die Stadt scheint sich nach diesem Wunsch zu drehen.
Es ist Frühling im Jahre 1928, und nicht einmal Vít Nezval, der spätere Dichter der Stalin-und-Frieden-Gesänge, nun aber Milenas Astrologe, ahnt Böses. Auch nicht als Surrealist und Autor magischer Texte, der er zu bleiben hofft. “Du bist Löwin”, flüstert er ihr zu, “das heißt Stärke, Stärke!” Sie fühlt sich stark, fährt in die Berge – und bricht sich beim Skifahren das Bein.
Massive Gelenkschmerzen gesellen sich dazu. Man verstreut die Nachricht, Milena, spontan wie sie ist, habe im kalten Wasser gebadet. Die Wahrheit jedoch hat diesmal einen Artikel, einen vielleicht zu bestimmten: Der eigene Mann hat sie infiziert.
Gonorrhoische Infektion. Sie kämpft um das Leben ihres Kindes und um das eigene. Die Sterne stehen schlecht. Dieses eine Jahr macht sie zur Matrone, sie hinkt am Stock, gewöhnt sich an Morphium gegen die Schmerzen. Ihr Eheglück wird zum Wahn. Krejcar pilgert nach Moskau zu neuen Bauten. Aber der rote Stern steht ebenfalls nicht günstig. Alle Genossen sollen jetzt Bolschewisten werden, frei von der Last der Kosmopoliten, die sich komischerweise immer als Juden erweisen. Die Proletarier aber sind gesund, schlicht und kaukasisch munter wie der große Stalin.
Auch Milena, deren Tschechisch Kafka bewunderte, soll sich jetzt diesen törichten Jargon zulegen, mit dem sich die Freunde von gestern bekämpfen und dessen Monotonie die Lust am Morden nicht mehr verbergen kann. Nein, diese Art, Dinge einfach zu machen, meinte sie nicht. Sie schweigt nicht, und die Säuberer merken es sich. Einmal an der Macht, werden sie dafür strafen und töten. Da wird Milena schon unerreichbar sein, die Asche im See bei Ravensbrück werden sie kein zweites Mal auflösen können.
Alles geht irgendwie in die Brüche. Milenas Wien wird braun, Menschen, die sie mochte, putzen jetzt Straßen.
Prag wird zur Drehscheibe – zum Notausgang nach West und Ost. Krejcar kehrt zurück, froh, die nackte Haut gerettet zu haben. Werfel, Polak, Broch erscheinen untr den Adressen von einst. Milena hilft, sammelt Geld und schreibt ihre besten Texte: ein klares Nein zur Monomanie von Stalin und Hitler. Aber nicht einmal jetzt verallgemeinert sie. Ihre Einfachheit heißt nicht Einfalt. Hitler hält sie nicht für Deutschland. Und sie sagt das sogar in den düsteren Tagen um München.
Ein solches Nein in einem Europa voller Jarufer ist wie der Zielpunkt jenes Weges, auf dem man einfach das Schwerste tut. Oder wie schrieb das ihr Kafka? “Die Guten gehen im gleichen Schritt. Ohne es zu wissen, tanzen die anderen um sie die Tänze der Zeit.”
Obwohl wir Prager mit Vorliebe unsere Straßen nach vielen Taugenichtsen benannt haben, nennt sich keine nach den berühmtesten Tschechinnen (Heilige und Königinnen eingeschlossen). Denken Sie alson an Milena Jesenská, wenn Sie in Prag flanieren. Sie ist ein Stück jener seltenen Tugend, die bei uns dafür sorgt, dass wir nicht in böhmischen Dörfern enden.
Ihr Tod war groß. Bald nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen wurde sie verhaftet. Man fand nichts Greifbares, dennoch musste sie nach Ravensbrück: Häftling Nummer 4714, Rückkehr unerwünscht. Sie starb dort Ende 1944. Zeugen und Berichte belegen ihren Mut und Lebenswillen.
Sie soll, kurz vor ihrem Tod, ein Märchen auf einen Zettel gekritzelt haben:
“Es war einmal ein König, der hatte eine schöne Tochter, die tagelang Gedichte schrieb. Niemand vermochte es, ihr das auszureden. Bis ein Zauberer kam und sagte: ‘Ein Tintenklecks muss her! Sie ist verwünscht, aber der Klecks wird das schon richten.’ Bald darauf erschien der dumme Hans (der Pfiffikus des Tschechenlandes) und ärgerte das Mädchen: “ Du hast eine schiefe Nase.” Sie wurde wütend, gab nicht acht, und sie da, schon war es so weit …”
Grušas Tschechien ist eine Einladung, dieses schöne Land im Herzen Europas kennenzulernen. Der bedeutende tschechische Schriftsteller und Diplomat, der nach seiner Ausbürgerung auch ein deutscher Schriftsteller wurde, schrieb diese Gebrauchsanweisung für Tschechien und Prag, wie der Text früher hieß, aus intimer Kenntnis und praller Lebenserfahrung, in Liebe und mit Ironie, wie es nur jemand kann, der mit diesem Land von Geburt an verbunden ist. Das Buch wird dem Kenner neue Aspekte bieten und dem Neuling die Augen und das Herz öffnen. Wie schreibt Miguel Herz-Kestranek in seinem Vorwort: „Es fügen sich Anspielungen und Informationen zu einem wissenswerten Ganzen, das Lust macht auf dieses Land und Vorfreude weckt, es endlich einmal zu besuchen oder genießend wiederzusehen.“ Wir fügen dieses erfolgreiche Buch der zehnbändigen Ausgabe der Werke des Schriftstellers als Ergänzungsband bei, um es wieder zugänglich zu machen.
Jiří Gruša, geboren 1938 in Pardubice (Böhmen), gestorben 2011 in Bad Oeynhausen, Studium der Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität. Mitwirkender am Prager Frühling; Journalist, Lyriker, Prosaist, Essayist, Übersetzer, Arbeitsloser, Schriftsteller, Intellektueller, Dissident, Politiker, Botschafter und inniger Freund von Václav Havel. Präsident des Internationalen P.E.N.; von 2005 bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien; zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.
Text: Buchumschlag, Wieser Verlag, 2019
Jiří Gruša
Die Verlockung auf dem Dorfe
oder
Die Jungfrau und das Ungeheuer
Nach erneuter Lektüre Kafkas ...
Das Land hieß Böhmen und brachte am Anfang dieses Jahrhunderts Rilke, Werfel, Kafka, Hašek, Weiner und Deml hervor.
Tschechen, Deutsche und Juden bildeten seine dreieinige Seele. Mit dem Quadrat der Zeit wird das immer deutlicher.
Sie fand ihren Ausdruck in der Literatur. In der großen, die ungeachtet der Sprache die Einheit, ja Einzigartigkeit der gemeinsamen Kultur artikulierte … und paradoxerweise auch in den kleinen Literaturen, die gerade ihr Abgeteiltsein, ihren eigenen gemeindlichen Rahmen betonen.
Schon Kafka schrieb ihnen Prinzipienlosigkeit, kleine Themen, leichte Symbolbildung und Zusammenhang mit der Politik als bestimmende Merkmale zu. Diese Charakteristik gilt für einen ganz großen Teil der damaligen tschechischen Produktion, wenn es auch ihr Bemühen war, von “Heim und Herd” loszukommen. Doch die Tschechen hatten eine besondere Begabung, ihre wenigen Großen auf Eigenmaß zurückzustutzen.
Und dies galt auch für die deutsche-einheimisch-ländliche Literatur, soweit sie sich als Landesliteratur beschwören wollte und der Provinzialsierung verfiel.
Heute weht aus solchen Texten der Humor des Ungewollten:
“Ist es überhaupt möglich”, fragte ein tschechischer (und nicht unbedeutender) Kritiker, “dass ein deutscher Schriftsteller den tragischen Geist Prags begriff?”1 Dieser gute Mann konnte auf dem Weg in die Redaktion mindestens einmal in der Woche einen gewissen F. Kafka treffen. Die mächtige Tageszeitung des Kritikers, deren Name Venkov war, deutsch “Das Dorf” (!), hatte ihren Sitz Na Poříčí, deutsch “Am Graben”, und erinnerte die böhmischen Juden stark an die Worte, die die Dorfbewohnerin in Kafkas Schloss dem Landvermesser sagt: “... Sie sind nicht aus dem Dorfe, sie sind nichts.”
Dreihundert Meter von der Arbeiterunfallversicherung, wo Kafka sich lebenslang quälte, hatte “Das Dorf” seinen Sitz … fest davon überzeugt, dass “nur ein tschechisches Herz”, nur ein solches, “Prag in Lieben und Leiden erfassen kann.”
Ironie?
Natürlich. Aber nicht nur von hier aus. Auch von der anderen Seite, für die “Prag”2 (so heißt der Roman, aus dem wir zitieren werden) der Ort großtuerischer Ungehobeltheit einer gewissen “Landesbevölkerung” war, mit ihrem Alkoholismus, ihrer Prostitution, Grobheit, Heimtücke und seltsamen Servilität, die sich schließlich immer nur als Abwarten erweist, wann ein Schlag wirksamer versetzt werden kann. Der deutsche Held dieser Kolportage befindet sich zusammen mit seinem jüdischen Freund plötzlich auf dem Hof irgendeiner tschechischen Spelunke, um zufällig Zeuge dieser Schlüsselszene zu werden: Gerade ist eine Hündin eingegangen, Mutter von sechs Welpen. Eine tschechische Hure geht über den Hof — Mitleid mit den jungen Hunden bemächtigt sich ihrer. Sie brockt ihnen Brot ein. Die Hunde fressen nicht, sie sind noch blind. Gottseidank hat der Autor nicht vergessen, das Mädchen auch mit Milch auszumachen. So macht es sich ans Stillen.
Sie schauten sich heftig atmend an (der Deutsche und sein Freund) … War dieses Mädchen, das keine Angst vor dem saugenden Tier an seiner Brust hatte, nicht vielleicht doch mehr wert als eine vor Zärtlichkeit überfließende Mutter? Wies nicht dieser Trieb, in dem hier die Muttergefühle zur Geltung kamen, auf unerforschte Gebiete, wo man die Frage nach dem Untergang des Volkes suchen muß …? Und es war ihnen (diesen beiden), als ob sich eine Lösung dessen anböte, worüber sie ganze Wochen lang gesprochen und was sie umgewendet hatten.3
Punktum.
Doch übersehen wir dieses Motiv nicht: Die tschechische “anima” verhält sich hier zum Animalischen sozusagen menschlich.
Im Unterschied zu den tschechischen Kleinliteraten jedoch, die sich in ihren Porträts des deutschen Gegenübers entweder an die gleichen Klischees hielten oder überhaupt so taten, als ob die andere Seite nicht existierte, ja im Unterschied zu den größeren und großen Tschechen, die einfach keine künstlerisch bedeutende Gestalt der deutschen Mitwelt schufen, hat sich die deutsche Literatur — und zwar sowohl die provinzialiserende wie die große — mit der tschechischen Welt beschäftigt, und wenn schon nicht vom tschechischen Mann, von der tschechischen Frau war sie hingerissen.4
Und die Frage war gerade auf dieses “Mysterium” der aus anderem Grunde kommenden “Vitalität” gerichtet. Trotz aller Reibereien und Hindernisse haben sich deutsche und tschechische durchgerungen, um eine lebendige, vielfältige und gleichzeitig einheitliche Form zu bilden.
Erotische Anziehungskraft war einer der Aspekte — wenn auch der am wenigsten zu übersehende — dieses Zusammenlebens.
“Jeden, der Augen hat zum sehen,” spricht einer der bedeutenden Zeugen, “bestätigt die tägliche Prager Erfahrung einer gegenseitigen Anziehungskraft. Die Prager Kaffeehäuser, Unterhaltungsstätten, Badeanstalten sind voller Liebespaare; ein junger Jude — sehr häufig ein Deutscher, der tschechisch spricht — ein junges tschechisches Mädchen. Es geht in der Regel … um spontane Beziehungen …”
Das gilt auch für den größten Schriftsteller Böhmens, Franz Kafka, einen Juden, einen Deutschen, der tschechisch spricht: “... nur wie Sie dann zwischen den Kaffeehaustischen weggingen, Ihre Gestalt, Ihr Kleid, das sehe ich noch …”, schreibt er in seinem zweiten Brief an ein tschechisches Mädchen, in dem er sein zufälliges Zusammentreffen mit ihr schildert (wohl 1919). Bis zu Januar 1921 wird aus diesen Briefen eigentlich ein Buch. Es erscheint achtundzwanzig Jahre nach Kafkas und acht Jahre nach der Adressatin Tod. Es wird nicht zum Dokument des “tiefsten und erschütterndsten Erlebnisses”5 Kafkas, sondern auch im wahren Sinn des Wortes ein Werk mit deutlichen Zügen von Stilisierung und Komposition, ein Werk, in dem jenes Mysterium der andersartigen Vitalität seinen höchsten Ausdruck findet. Milena übertrifft an Ruhm dann andere literarisierte oder auch historische Tschechinnen, “Heilige und Königinnen”, mitgerechnet.6
Wer war sie?
Eine “ephebische Schönheit” mit einer Frisur “à la präraffaelistisch", die auf den Graben übersetzte? Eine Erscheinung, nach der sich im Auge das unerlässliche Monokel, Graf Thun umdrehte, der k.u.k. Landesstatthalter und eleganteste Mann seiner Zeit?"7
Ich habe “übersetzte” gesagt, denn ich wollte die Bedeutung der Tat und der Lokalität unterstreichen. Prag war geteilt. Von der Ferdinandstraße, dem tschechischen Korso, auf die Straße der deutschen Creme hinüberzugehen, bedeutete dasselbe wie über einen Fluss zu setzen. Neu war hier nicht so sehr das Zusammentreffens des tschechischen Elements mit dem deutschen, neu war die Art, wie es geschah.
Milena und ihre Altersgenossinnen kamen nämlich nicht als Objekte der Gunst, sondern als diejenigen, die sie erweisen.
Und dazu war sie besonders geeignet.
Sie hieß Jesenská und das bedeutete etwas in Böhmen. Ihrem Vorfahren, so glaubte man in der Familie — schlug der Henker im Jahre 1621 den Kopf ab. Doktor Jan Jessenius, Rektor der Hohen Karlsschule, Diplomat und Arzt, der die erste öffentliche Obduktion durchgeführt hat, sieh an, wie hässlich, wo er jetzt seziert wird. Zuerst die Zunge (wegen der Beredsamkeit), dann die Hand (wegen Meineid) und zum Schluss der Kopf. Und als ob es an dieser zeremoniellen Schlächterei noch nicht genug sei, befiehlt der Kaiser, der sich an den protestantischen Ständen rächt, den Körper zu vierteilen und auf dem Prager Kreuzweg auszuhängen. Das an manches gewöhnte Europa atmete tief vor Grausen — und das tschechische Böhmen wurde ländlich, wurde zum “Dorf." Jessenius’ Kopf, in einem eisernen Korb, schaut sich das vom Brückenturm aus an, bis er — zusammen mit den anderen — zum Schädel wird.
Man wurde bedeutungslos, ohne es dem Kaiser je zu vergessen. Jan II. Jessenius kommt Ende des 19. Jahrhunderts in diese Stadt, entschlossen, die Dinge an ihren richtigen Platz zu rücken.
Er ist mittellos, jedoch mit Intelligenz, Männlichkeit und Neigung zur Grandezza ausgestattet. Vielleicht könnte man sagen “er wird sich vorteilhaft verheiraten.”
Er heiratet die Tochter des Schulinspektors für Böhmen und von der Mitgift richtet er sich eine Praxis ein. Denn auch er wird Arzt. Und natürlich auf derselben Universität — Professor. Deren längerer Name — seit jener Großhinrichtung heißt die nämlich Karl-Ferdinand-Universität — ist in seinen Augen ein begrenzter und ungeschickter Zusatz.
Jesenský wird tschechisch national — er kann eigentlich nicht anders. Aber sein historisierender Aristokratismus, sein Sinn für den Mythos dieses: “ich bin das Ereignis” fließen mit der Mentalität der Gründerzeit in eine bewundernswerte Mischung zusammen.
Ungewöhnlich bei anderen Tschechen, die eher auf ihr Plebejertum stolz sind. Er ist Patrizier, ja Aristokrat — eine Haltung, die seine Tochter bis ins Detail übernimmt. Und er ist auch ein Dandy, mit einer Leidenschaft für Frauen; von seinen Schülerinnen bis zu den Ehefrauen der Freunde und den Patientinnen.
Das letzte Prager Duell hat in Jesenský einen letzten Duellanten. Er hat sich angeblich gut gehalten. Nicht so sehr als Vater. Für Milena ist er eher Gegenspieler als Partner. Und nach dem Tode der Mutter (er hat ihn nicht erschüttert) jemand, von dem sie sich einen zusätzlich Beweis des Mitleids erzwingt, und das um so betonter, je größer die Selbstverständlichkeit und Zuneigung ist, mit der die Tochter Jesenkýs Wertskala teilt.
Im Unterschied zu Kafkas Verhältnis zum Vater herrscht hier Aneignung, Zustimmung, keineswegs, die eigentlich erzwungene, halbherzige Achtung der Verdienste des eifrigen Hermann, der es, klein angefangen, “zu etwas gebracht” hat, bis er sich in einen Tyrannen und Boss verwandelte.
Franz Kafka hat sich nie mit Hermanns Galanterie abgefunden — und all seine Gestalten sind doch in irgendeiner Weise untergeordnete, dienende, keineswegs berufene Menschen. Milena wird revoltieren, ohne an der Natürlichkeit des Ichs ihrer Abstammung ernsthaft zu zweifeln.
Als Mädchen hatte sie den Vater sich gegen die Macht auflehnen sehen. Bei den nationalistischen Straßenkämpfen der letzten Dekade des vorigen Jahrhunderts ist er als Einziger “stehengeblieben”,8 als die Menge floh und nur Tote übrigblieben. Daraus leitet sie für sich selbst ab, dass man auch angesichts Jesenkýs stehen bleiben muss. Und lässt sich natürlich niemals bei irgendeiner Behörde einstellen. Der Vergleich der Väter, der so häufig als das Psycho-Band zwischen Milena und Kafka angeführt wird, muss also derartig berichtigt in Erwägung gezogen werden. Viel wirksamer war da vielleicht jene emotionale Kälte, jenes Nicht-Sentiment der Gründerzeit, mit dem beide Väter ihre Kinder in die Welt brachten … als Folge der Mitgift. Denn Hermann richtete sich seinen Laden mit Julies Gelde so ein, wie Jan mit dem Geld des Schulinspektors seine zahnärztliche Praxis.9
Die Kinder konnten sich als Unterposition einer umfangreichen Rechnung für gelieferte Waren vorkommen.
Sonst jedoch ähnelt Milena viel mehr jenen stolzen Mädchen, die an Kafkas Prager Spaziergänger in den ersten, noch in Prag lokalisierbaren Erzählungen vorbeigehen und ihn ablehnen, indem sie ihm unverhohlen klar machen, dass er wahrscheinlich kein “Herzog mit fliegendem Namen” ist. Sie erinnert nur wenig an eine Frieda oder Amalie des Schlosses, als deren mögliche Inspirationsquelle sie — insgesamt mit Recht — angesehen wird. Ihr Charakter zwingt uns, an die Figuren der Romantiker zu denken. Dieser Rahmen der Selbstidentifizierung muss bei einer Schülerin des “Minerva”, jenes ersten und hochgeachteten Mädchengymnasiums — einer Brutstätte emanzipierter und preziöser Damen des tschechischen öffentlichen Lebens — einfach vorausgesetzt werden. Und man kann sich kaum einen größeren Gegensatz zu jenen risikolosen Frauen vorstellen, mit denen zusammenzusein (aus Entfernung, nicht beschwert von Intimität) das Schreiben nicht bedrohen würde.
Solche wünschte sich Franz Kafka, aber auch diese waren ihm schließlich zu lebendig. Neben ihnen ist Milena einfach das Risiko selbst. Gemessenheit, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und “Tüchtigkeit” (von Kafka an Felice Bauer bewundert), das alles sind zwar hervorragende Eigenschaften, sogar von Jesenský amtlich gutgeheißen, doch dort in Prag, wo Milena wohnt, nicht sehr heimisch. Und schwer nur kann der Vater ihr sie nahebringen, ist er doch selbst Hasardeur beim Kartenspiel, ein Mann der Eskapaden und als Ehemann nicht treu. Das wird die Tochter, fast wie eine Liebhaberin, je verborgener, desto heftiger, an ihm bewundern. Sie verlangt das gleiche Maß an leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, wie es auch an anderen Frauen des Vaters zuteil wird. Milena entwickelt eine ganze Kultur der Trotzliebe, mit der der väterliche Adressat dazu gebracht werden soll anzuerkennen, dass auch die ihm nächststehende Person der Liebe wert ist.
Und es ist ein ganzes System von Strafen, die den Vater verfolgen, Strafen, die sein “Heiligstes” treffen, denn nur so kann man verwunden, aufrütteln, eigene Anliegen zu Gehör bringen. So wird also der Jesenský überrascht von den kleptomanischen Auftritten seiner Tochter in den besten Prager Geschäften, erlebt falsche, auf seine — der Familie — Namen ausgestellte Wechsel, erlebt den Verkauf der geliebten Münzensammlung, Angriffe auf seine Standesehre (in seiner Praxis verschwindenden Drogen) und ist natürlich Affären der Promiskuität ausgesetzt, die als Rache für die Demütigung der Mutter konzipiert sind.
Für ihr Sterben, das Milena miterlebt und umsorgt hat.
Ein Sterben, das unter dem beinahe manifestierten Desinteresse des Vaters vor sich ging. Nach Jahren wird sie erzählen, wie Jesenský in das Zimmer der Sterbenden kam, um einen Strauß sowieso ganz ausnahmsweise geschenkter Veilchen fortzunehmen …, nebenan in der Praxis war gerade eine anmutige Patientin.
Milenas Strafen gewinnen allmählich skandalöse Ausmaße. Junge Männer, Schüler des Vaters, seine Assistenten, werden in den Dandy-Anzügen des Herrn Doktor erscheinen, von eben der Tochter des Doktors beschenkt, die sich gerade solche auswählt, von denen sie sicher weiß, dass der Vater sie am wenigsten gern hat. Und Milena wird sich vor sogenannten ”Folgen” hüten, denn die stellen die größtmögliche Form der “gesellschaftlichen Schande” dar, die man dem Vater bereiten kann. Und natürlich: auch das ureigene Band zwischen den beiden, die größtmögliche intime Nähe — in negativer Weise. Da muss Jesenský, Arzt und ein Mann mit Verbindungen, “zugeben”, das ihm an der Tochter mindestens so viel liegt wie am eigenen Ruf. Zum ersten Mal wird er zu solch einem Bekenntnis unmittelbar vor Milenas Abitur gezwungen, das zweite Mal vor ihrer Volljährigkeit.10 Und selbstverständlich wirft Milena das Geld zum Fenster hinaus; nur vor dem Geld, jedenfalls scheint ihr das so, hat der Vater Respekt. Sogar die häufig erwähnte Freundschaft zur schönen Mitschülerin des Minerva …, “es ist eine unglaubliche Vereinigung zwischen ihr und Dir”, bemerkt Kafka, schreibt jedoch dieser Liaison einen medial-geistigen Charakter zu …,11 also auch diese sapphische Freundschaft kann man nur zum Teil aus der Bewunderung für Oscar Wilde und seinen damaligen Skandal ableiten; viel mehr als die Leidenschaft zur Selbststilisierung hat hier sicher — wie das in solchen Fäller sehr häufig ist, eine starke Verbindung gewirkt. Und Jesenský greift ein, er lässt die Tochter in einer luxuriösen, aber psychiatrischen Anstalt internieren.
Die neue Liebe Milenas ist in diesem Zusammenhang eher ein letzter Grund. Ernst Polak war nichts anderes als ein — wenn auch äußerst starkes — Exemplar des alten Familientrotzes. Das Einschreiten Jesenkýs muss als der letzte Akt von Milenas Spiel mit dem Vater betrachtet werden — um den Vater. So blieb also noch, Jesenský der Situation des “Urteils” anzusetzen, um die Erzählung zu paraphrasieren, in der Kafkas Familiendrama verdichtet ist. Dort freilich springt Georg Bendemann gehorsam in den Fluss, als ihn sein Hausherr, anstatt der Verlobung zuzustimmen, dazu verurteilt, sich zu ertränken. Milenas Vater ist nicht jener alles überschattende “Riese”, er ist Rivale, aber auch Partner. Im Übrigen sähe ein vernichtendes “Urteil” über Milena anders aus. Es würde bedeuten, sie den Folgen ihrer Offensiven auszusetzen, einfach nichts zu tun! So müsste auch Bendemann à la Milena regelmäßig von der Brücke springen, um zu überprüfen, ob diesmal wirklich nichts zu seiner Rettung geschieht. im Urteil Jesenkýs findet also nicht nur die Verlobung, sondern auch die Hochzeit statt.
Polak ist ein schöner Mann — die Quintessenz von Jesenkýs Abneigungen —, deutscher Jude, der sich nicht einmal bemüht, Tschechisch zu sprechen. Nicht ein Literat, eher ein Mann aus dem Umfeld der Literatur. Er weiß alles über sie, denn er muss sie nicht schreiben. Dazu träumt er nicht stark genug. Als Charmeur ist er daran gewöhnt, dass von ihm geträumt wird. Er ist aber ein “Arconaut”. Er pflegt im Arco, dem Café der deutsch-jüdischen Literaten an der Ecke der Hyberner- und Pflastergasse zu sitzen, wo es “kafkat, brodelt und kischt”, ohne dass es jedoch polakt. Nicht dass er kein hervorragender Intellekt wäre, aber eher eloquent glossierend. Für Milena um so anziehender, als er in seinem Benehmen der weiblichen Welt gegenüber vergleichbar war mit — nun, wieder mit dem Vater.
Der “urteilt”, doch sehr großzügig. Wenn er sich schon ergeben muss, dann tut er das mit Grandezza. Der Tochter übergibt er Aussteuer und Vermögen.Das Böse an dem Urteil lautet: von Prag nach Wien.12
Dort lebt es sich schwer, Milena gibt das Geld aus und verkauft die Aussteuer. Dann beginnt sie ans Ernsts Seite zu verschwinden. Zu Hause war sie die Jesenská, hier ist sie die Polak — in der unübersichtlichen, “verfluchten” Stadt.13 Wien wird für sie, was Prag für Kafka war. Ein Geschöpf mit Krallen.
Anstelle des Arco — der Herren-Huren-Hof, ein Café, wo Ernst unter seinen in der Hauptsache Freundinnen Platz nimmt und wo er sicher auch ständig von jemandem ans Telefon gerufen wird. Ein Ritual, das Kafka noch aus dem Prager Arco in Erinnerung war.14 Milena befindet sich also, was die Beziehung zu ihrem Mann angeht, in dem von zu Hause bekannte Dilemma. Weil jedoch das rivalisierende Element Vater-Tochter entfallen ist, entfällt auch das zugehörige Spannungsmoment und Milena fühlt sich getäuscht. Berühmt durch ihre Prager Abenteuer, ist sie nicht imstande, sich in Ernsts Großhaushalt zu finden. Sie versucht einen Selbstmord, eine Woche liegt sie in der leeren Wohnung, “keine Menschenseele kennend, nur halb bei Bewusstsein”, und nicht Polak, sondern die Hausmeisterin weckt sie auf, “mit kräftigem Rütteln und ruft sie zum Leben”. Die, welche die Zeitgenossen als eine junge Schönheit mit lebvollen Augen kannten und, blonden, gelockten Haaren, an der sie das Lächeln bewunderten, die Grazie, die noble Körperhaltung, liegt hier erschöpft und den Folgen dessen ausgesetzt, was sie bald selbst einen “dummen Einfall” nennt. Der Ausbruch der Freiheit hat den Geschmack des Falles.
Sie nimmt die Vertreibung an und die Einsamkeit, auch ihre soziale Stellung — sie trägt Koffer auf dem Bahnhof — doch sie unterwirft sich nicht dem Kleinkram des Kaffeehauslebens. Dazu ist sie eine zu wenig marginale Erscheinung. Nicht literarische Peripherie, den “Satz” der Cafés, sondern den echten Aufguss, die geistige Atmosphäre des “Kultur- und Lebensklima Wiens”15 nimmt Milena auf und verarbeitet sie. Ihre Eigenart und Persönlichkeit, die sich in Prag in der Konkurrenz und negativistisch manifestiert hatten, wollen zu ihrem Recht kommen. Von Polak für jede Zeile verlacht, beginnt sie ihren “Weg zur Einsamkeit” zu gehen. Sie weiß schon, dass “... es notwendig ist, sich vor einen großen Spiegel zu stellen und mit größter Sachlichkeit aufzuzeichnen, so bin ich und so bin ich nicht. Das habe ich und das fehlt mir. Das kann ich und das kann ich nicht. Das habe ich und das fehlt mir. Das kann ich und das kann ich nicht, also werde ich es nie tun …” Worte aus ihrem ersten Buch, das ihr Formen und Reifen zusammenfasst und auch Der Weg zur Einfachheit (Cesta k jednoduchosti) heißt. Hier wird deutlich, welchen Eindruck das Treffen mit Kafka auf Milena gemacht hat. Es wird ein in vieler Hinsicht widersprüchliches Buch, von Bekannten und Eingeweihten ironisiert — denn man kann sich kaum etwas Raffinierteres vorstellen als Milena — doch es wird auch zu einem Schlüssel.
Kalokaghatisch könnte man sagen — nach jenem uralten griechischen Ideal der Einfachheit erhabener Herkunft und reichem Inneren, von der Einsicht seelischer Vielfalt und den Fähigkeiten oder der Habschaft der Physis.
War das nicht eigentlich der überlegene und kultivierte Aristokratismus des alten Jesenský?
Nicht zufällig ist die Schrift dem Vater gewidmet — als eine gewisse Form der Aussöhnung, beschlossen auf der kaum hart gewordenen und nie ganz ausgekühlten Lava des gemeinsamen Vulkans.
Jetzt aber schreibt sie noch für Prager Zeitungen, und was an ihren Prager Vorfällen Selbststilisierung und Spiel schien, erweist sich als eine Schule des Geschmacks. Milenas Stil, dynamisch persönlich, ist Ausdruck ihrer Lebensart, auf die sie hinarbeitet und mit der sie später in das tschechische Kulturbewusstsein eingreifen wird. Auf ihre Beiträge wird nicht nur Kafka mit Spannung warten, sondern auch eine breite Leserschaft. Unter dem durchsichtigen Pseudonym (A. X. Nessey) schreibt sie für die liberale Tribuna und hat in deren Feuilleton-Rubrik starke Konkurrenz (Kisch, Hašek), der sie standhält. Sie beginnt zu übersetzen und wählt sich (eher vom Instinkt geleitet als von Ratschlägen) die Erzählungen eines gewissen “Fremden, den niemand für einen irgendwie ungewöhnlichen Menschen hält”, der aber Milena mitreißt — schon allein, weil unter der Prosa, die sie interessiert, auch das Urteil ist. Der Fremde macht eine Kur, die Karte, die er erhält, die Bitte um Zustimmung zur Übersetzung, bewegt ihn schließlich zu einer Antwort.
Das Mädchen, das ihm schreibt, kann er sich zwar nicht vorstellen, sie ist “gesichtslos”, ist jedoch die Erste in seinem Leben, die sich sozusagen der “Schönheit der Seele wegen” an ihn wendet. Denn im tschechischen Böhmen wählen sich die Frauen die Männer. Auch sie ist — fremd. Tochter dieses chthonischen, tief verwurzelten “Bauernvolkes”, mit dem man nun in noch unmittelbareren Kontakt treten muss. Das Jahr 1918 ist vorbei und das Tschechentum hat seine Rechte erlangt. Jesenský ist Professor an der Universität von Jessenius, der Zusatz “Ferdinand”, die Folge der damaligen Großhinrichtung, ist aus dem Namen verschwunden Item: Für Juden und Deutsche ist notwendig, damit zurechtzukommen, plötzlich “im Dorf” zu stecken. Auch Kafka muss das, sein Versuch ist von zwei Meilensteinen markiert: von Milena und dem Schloss.
Manche Beobachter meinten schon lange, dass Kafkas Stil in großem Maße auf dem wörtlichen Verständnis von Redewendungen basiert, auf ihrer Analyse und logischen Folge, in der und aus der heraus eine wörtlich verstandene Alltagsmetapher zu ursprünglichen Klarheit und Eindringlichkeit erobern wird. Wenn diese Festestellung wahr ist, wäre es in bestimmter Weise möglich, das Schloss als die wörtliche Übernahme des Idioms von den “böhmischen Dörfern” zu verstehen, mit dem das Deutsche Unverständliches, unerklärlich eigenartige Unerkanntheit bezeichnet.
Dieses “böhmische Dorf” erscheint in Böhmen nun doppelt seltsam und unerklärlich.16 Ja es beginnt jetzt noch aggressiver zu handeln. Übrigens ist auch rein sozialpolitisch gesehen die tschechische Gemeinschaft am bedeutendsten gerade vom agrarischen Element geformt. Die Venkov, sein militantes Parteiorgan ist dem Dr.jur. Kafka körperlich nahe unter die Fenster gerückt. Man findet auch den unmittelbaren Widerhall dieser Zeitung in den Briefen an Milena.
Unerwünschtheit, Nichtzugehörigkeit, Fremdartigkeit, Andererssein bekommen die Juden Böhmens täglich serviert. Wörtlich und physisch. “Das Dorf”, wenn wir wiederum das tschechische Wort Venkov übersetzen, “hat sehr recht, auswandern, auswandern …” schreibt Kafka an Milena. Ein Satz, der auch in dem Schloss stehen könnte.
Das “Dorf” jedoch ist nicht nur der Ort der Profanität, des Plebjertums, der Egalität und Adoration des sogenannten normalen Menschen, oder ein Milieu, in dem der Sinn für die Bestimmtheit und Ausgeprägtheit menschlicher Beziehungen sehr gedämpft ist, sondern auch die Stätte eines gewissen matriarchalischen Residuums, Stätte jenes “Mysteriums der Vitalität”, wo noch die weibliche “anima” herrscht, offen, alles annehmend, doch dabei immer sie selbst. Das Karussell von Scham und Schuld, dieses patriarchalische Konzept, wird hier einfach nicht so ernst genommen. Denn Väter hält man hier im Stillen zwar, aber immerzu einfach für den Sohn einer sicherlich sehr viel denkwürdigeren Mutter. Versagen oder Irren sind hier Eigenschaften wie alle anderen, ohne den Beigeschmack des Schicksalhaften. Die Bereitschaft zu helfen, und zwar auch prinzipienlos, wird hier geschätzt.
Lebt es sich so nicht doch “natürlicher”? Ist nicht schließlich auch Milena, dies “herrliche, unterdrückte Natur, die sich nicht unterdrücken lässt”, nur eine sehr gesteigerte Ausgabe dieser Haltung? Und das trotz ihrer Eingliederung in die Großstadt — ja, eigentlich deswegen, denn auch das nicht plebejische Neutschechentum verleugnet nur um ein, zwei Generationen zurück kaum seine Herkunft aus den nichtprivilegierten Schichten, und hat es auch jede Profanität abgelegt, dieses Muttermal trägt es mit sich.
Für Kafka, dessen familärer und sozialer Aufstieg im Rahmen des jüdischen Patriarchalismus geschieht, ist die Andersartigkeit anziehend, die Unzugänglichkeit verlockend. Die Formel für die Entwicklung der Distanzliebe, jenes Fachs, in dem er seine lebenslange Praxis hat, ist in idealer Weise gegeben.
“Ich kann offenbar nur lieben … was mir unzugänglich ist”, summiert er seine Liaison mit Milena (freilich auch seine vorhergehenden), um so die grundlegende Voraussetzung jeder Liebe auf Distanz klinisch zu definieren.
Er kämpfte quälend lang damit, aber baute auch in alle seine Beziehungen eine Sicherung namens Entfernung und Nichtberührung ein als Ausdruck der hundertmal verhüllten Angst vor der heterosexuellen Nähe. Und auch als Ausdruck der Unfähigkeit, aus jener Selbsteingenommenheit herauszuschreiten, die für das Schaffen so unerlässlich ist, die aber schließlich so etwas wie eine autoerotische Dimension gewinnt.
Er trug schwer daran: und unmittelbar vor Milena unternimmt er eigentlich die weitestreichende Analyse seiner eigenen Fallen. Der Brief an den Vater ist frisch, über seine Nichtzustellung ist jedoch noch nicht entschieden. Milena zu haben, würde bedeuten, in die allerunerwartetste Richtung zu gehen, denn auch sie stellt — im Wertmodell der Kafkas — den totalen Gegensatz zur Axiologie nicht nur Hermanns dar, sondern zu all dem, was sich über Frauen, Ehe und Weiblichkeit der strenge Franz Kafka selbst denkt.
Und für Milena ist es auch verlockend, ihre Anlage zur Trotzliebe wird unwiderstehlich angesprochen. Verlacht zwar für ihr Schreiben, ist sie doch überhaupt nicht frei von Gefühlen für Ernst, auch wenn der schon wieder eine Mitfrau ins Haus gebracht hat.17 Der ironische Kommentator literarischer Größen, ihr scharfsinniger Klassifizierer und Verkleinerer — den klassifiziert sind sie leichter abzulegen — wird verwundbar sein grade mit literarischer Genialität, die man trotz allen Bemühens nicht aberkennen kann. Milena weiß, was sie tut. Doch sie ahnt nicht, dass ihre eigene Schule der Trotzliebe mit jener der Distanzliebe bei Kafka nur ein und dieselbe Achse bildet. Die Unfähigkeit reif zu lieben sehnt sich darin nach der Reife.
Milena immateriell — die jedoch reagiert, die erwidert, die imstande ist, intellektuell Schritt zu halten, ermöglicht es Kafka, das Distanzritual mit ungewöhnlicher Intensität und Schönheit zu entwickeln. Entfernt doch im Dialog, dessen Dringlichkeit wir erfassen, obwohl Milenas Part fehlt (übrigens hatten auch die Briefe ihrer Vorgängerin das gleiche Schicksal), wird sie konkreter und orientiert sich um; aus dem Polak-Ersatz, aus dem “ungewöhnlichen Fremden” erwächst ihr ein Intimus, der nicht nur der Liebe wert ist, sondern wünschenswert. Die Spuren dieses Prozesses bei Milena werden in Kafkas Briefen immer deutlicher. Schon weil Milenas Schule des Trotzes, diese emotionale “Infantilisierung”, nur ein Stadium ist, das bald überwunden sein wird … erkennt die Adressatin scharfsinnig eine Literarisierheit der Äußerungen Kafkas und stellt ihr das eigene “ich lebe” entgegen.
Sie wagt es, an den eigenen Geruch zu erinnern, und tut damit genau das, was der echte Schrecken für jede Liebe auf Entfernung ist. Und so wird Kafka, bislang gleichfalls, “gesichtslos” — je mehr geliebt, desto mehr herbeigerufen.
Und auch er entschließt sich. In seinen Briefen taucht früh ein Bild eigenartiger Symbolik auf:
Einen Schritt von mir war ein Käfer auf den Rücken gefallen, … konnte sich nicht aufrichten, aber ich vergaß ihn über Ihrem Brief … erst eine Eidechse macht mich wieder auf das Leben um sich aufmerksam, ihr Weg führte sie über den Käfer, der schon ganz still war, es war also, sagte ich mir, kein Unfall gewesen, sondern ein Todeskampf, das seltsame Schauspiel des natürlichen Tiersterbens, aber als die Eidechse über ihn hingweggerutscht war, hatte sie ihn damit aufgerichtet, zwar lag er noch ein Weilchen totstill, dann aber lief er wie selbstverständlich die Hausmauer hinauf. Irgendwie bekam ich wahrscheinlich dadurch ein wenig Mut wieder, stand auf … und schrieb Ihnen
Vom Autor der Verwandlung wahrlich bedeutsam. Und mit Sicherheit nicht ohne Absicht, denn in dem was, er an das “Mädchen” schreibt, ist, wie sie gleich errät, “nicht ein einziges Wort, das nicht wohlüberlegt wäre”.
Natürlich: dem Mädchen, dem “reinen Mädchen”, denn so ist der Versuch um eine Korrektur ihrer Weiblichkeit gemeint. Erneut wird ihre “Jungfräulichkeit” im Sinne der Unkörperlichkeit beschworen. Sie wird so mädchenhaft, dass er “Mädchenhafteres nie gesehen hat”. Er hat schon vergessen, dass er sie eigentlich überhaupt nicht gesehen hat, sie ist für ihn Jungfrau, Schönheit, und damit wird der Briefwechsel zum literarischen Werk. Und als sie ihn dann berichtigt und auf die Bemerkung über ihre (nie gesehene) Schönheit einwendet — wohl eher “bloß hübsch”, da sind die Rollen schon verteilt. Sie, die ihre Lebensfülle demonstriert (zwei Stunden leben sind mehr als zwei Seiten Schrift), bleibt nun schon das Mädchen, das vom gelebten Leben nicht befleckt werden soll; er, dem “die Schrift vielleicht ärmer, aber klarer ist”, bleibt das Tier, das es wagt, seine “krallige Hand” hervorzuschieben und zu reichen.
Die Klarheit, die Reinheit der Literatur, die Wonne des Schreibens, wird hier mit dem Verzicht auf alle anderen Du erzielt, also auf die vitale Voraussetzung alles Befruchtens und von daher: — in der (freiwilligen, gewollten) Ausgliederung aus der Teilnahme am Wunder des Lebens (wieder das “Mysterium der Vitalität”) entsteht das Gefühl der Bewegung irgendwie außerhalb der eigenen Art von Lebewesen. Manchmal um eine Klasse oder Familie nach Linné niedriger — im Tierreich als solchem.
Denn täuschen wir uns nicht, die Briefe an Milena sind ein konzipiertes Prosastück, sie sind eigentlich Schreiben hoch zwei, in dem die Personen gleichzeitig aus Fleisch und Blut sind — und doch Figuren, wo schließlich auch der Verlust des Gegenparts (der der anderen Briefe) und das Anvertrauen seiner Version jemandem, der den Text auch hätte nicht aufbewahren können, einfach nur die äußerste Art und Weise des Schaffens sind, der Sieg der “Schrift” über die nackte biologische Zeit.
Die Wonne solchen Schreibens ist jedoch die Wonne der Angst. Umso stärker (um so wonnevoller), je mehr das Leben dessen auf dem Spiel steht, der vielleicht noch verwandelt werden darf! Der Mythos handelt doch von der Rückverwandlung des Tieres in den Menschen.
Und das versucht Kafka. Mit dem Einsatz seiner selbst, der von vornherein bezweifelt wird (ihm ist “wie Napoleon”, der jedoch beim Einfall in Russland schon “vorher das Ergebnis kannte”). Aber gerade dieser Einsatz wird das dynamische, kathartische Element des “erhabenen, natürlichen Theaters” bilden, des Dramas dieser Briefe. Denn schließlich muss die Schöne dem Ungeheuer die Hand reichen.
Das Fernrücken und Herbeirufen dieses Augenblickes, das ist der “Kampf” um dessen “Beschreibung” es hier geht.
Der Kampf um das Leben — um seins —, das so plötzlich auf sich aufmerksam macht.
Und es naht die Berührung, die eigentlich mütterlicherseits Streicheln sein sollte; sie wird ein Aufprall. Das mädchenhafte Mädchen bringt es nämlich bei aller Vorsicht, allem Sinn für die Ansprüche an Mütterlichkeit der Beziehung nicht fertig, sich vom Strom des Lebens zu trennen, denn sein Gesetz befiehlt ihr — soll sie je lieben — die Verwandlung. Es ist die eine dreifache, die auf immer geschriebene, die bedeutet, sich alles Mädchenhaften zu entledigen, soll es je Weiblichkeit werden, die wieder Mütterlichkeit schafft. Oder in alter Weise: aus dem Kore Aphrodite und — Demeter.
Die männliche Unveränderlichkeit ist ihr verschlossen, das männlich-eine Wesen, und werde es von wenn auch immer noch so ausgebildet sein, und schaffe es selbst sich gerade in der “Schrift” seine Klarheit, seine Transzendenz, ist ihr einfach zu wenig.
Und überhaupt soll Kore die Fähigkeit zur Aufhebung des Zaubers gewinnen, muss sie selbst erst die eigene Triade durchmachen, erst dann kann sie erlösen, die Vereinsamung aufheben, den Panzer brechen, zur Ganzheit verhelfen, das Leben ausbreiten, die Zeit aufheben und die Unsterblichkeit spüren lassen.
Und umgekehrt: sie in diesem Übergreifen nicht anzunehmen, ihre “kathartischen”, erneuernden Wirkung zu entsagen, ihre, wenn sie so wollen — nun, Reinheit, nicht zu durchstoßen, bedeutet dann, aus ihr Kirke zu machen, diesen Schrecken alles Patriarchalischen. Diejenige also, die verzaubert, die animalisiert, in ein Schwein verwandelt, das Symbol des Unreinen — und natürlich in die Opfergabe, mit der die Alten gerade — Demeter (!) ehrten.
Deshalb ist das erste Treffen der erste Abschied.
Milena und Kafka treffen sich in Wien. Das Mädchen bekommt ein Gesicht, ihr Unirdischsein und ihr Bewundernswertes beginnen zu welken.
Eine gewisse Zeit dauert es noch. Die Heftigkeit des Aufpralls der Eidechse, um wieder zu Kafkas Metapher zurückzukehren, bringt den Käfer ins Rollen.
Er rotiert, die Beine berühren immer wieder für eine Weile die Erde. Und so lange diese Bewegung dauert, besteht hier so etwas wie das Kräfteschöpfen der Titanen. Es gibt Hoffnung und Angst — jetzt eher vor dem Verlust als dem Nichterlangen. Aber nur, bis sie noch einmal zusammenkommen, für einen Nachmittag in Gmünd ihre Frage stellt.
Es ist die ein Fragen “im Dorf”, dessen Zögling sie ist. Es klingt sehr unschuldig. Und ein wenig rituell, eigentlich formelhaft. Sie fragt ihn, ob er ihr untreu gewesen sei. In der Sprache des Dorfes und der Erde bedeutet es nur, ob ihr auch, sie ihm, “treu” war. Es ist nur die Bitte um Erlösung von der Schuld, eine Bitte, die selbst zuerst von Schuld erlöst. Sie verwischt die Vergangenheit, öffnet eine “Pflichtloge”. Das Weiblich, das Demeterhafte, lässt aber nicht mehr mit sich handeln.
Für denjenigen, der das “Dorf” nur “böhmisch” annimmt, ist das die reine Nichtsprache.
“Wie kann es geschehen, daß man so spricht?” reagiert und mit diesem Satz ist “Die Schöne versus Das Tier”, ein Stück des Dr. jur. Kafka in Briefen fertiggeschrieben. Der Käfer hat sich zu Ende gedreht, er liegt wieder auf dem Rücken. Der Versuch um das Dort findet nicht mehr statt. Wir wissen noch, dass der Landvermesser vor Erschöpfung zwischen dem Dorf und dem Schloss stirbt. Alles, was weitergeht, ist nur noch der “natürliche Todeskampf eines Tieres.”
Milena erkennt das instinktiv, atmet es ein, und erst jetzt, als derart klar ist, dass hier auf den Tod hin gearbeitet wird, begreift sie und mobilisiert ihre Fähigkeit der Liebe, zu der sie aufgerufen war … und die Kafka so hervorgerrufen hat, ohne sie jedoch jetzt annehmen zu können. Er will, ja darf nicht mehr gestört werden.
Der "leben-gebenden” Mutter Milena ist nur noch gestattet, den Nekrolog zu schreiben.
Jiří Gruša, Seite 198 - 222. Essays und Studien bis 1989, Essays I, Wieser Verlag - 〈Vábení na vsi aneb Panna a Netvor od Franze Kafky. Listy 14,1984, Nr. 3, S. 36-42.
Deutsch: Die Verlockung auf dem Dorfe oder Die Jungfrau und das Ungeheuer in Nach erneuter Lektüre. Franz Kafkas “Der Prozeß”. Ed. H. D. Zimmermann, Würzburg: Königshausen u. Neumann 1991, S. 251-267〉
In diesen frühen Essays musste der Schriftsteller und Diplomat Jiří Gruša noch nicht Rücksicht auf ein Amt nehmen, er war noch freier Schriftsteller, freilich einer, der bis 1981 unter dem Druck des Kommunismus stand, der eine freie Rede nicht erlaubte. So sind manche dieser Essays vorsichtig formuliert und doch voll Widerspruchsgeist. Sie erschienen in tschechoslowakischen Zeitschriften wie „Tvar“, „Sešity pro literaturu a diskusi“ und in „Literárni noviny“, aber auch in der Untergrundpresse.
Die Aufsätze, die Gruša nach der sowjetischen Invasion 1968 schrieb, sind historische Dokumente, die heute noch erschüttern. Sie zeigen nicht nur die brutalen Folgen der damaligen Invasion, sondern die Folgen jeglicher Diktatur. Insofern haben diese Aufsätze ihre Aktualität bewahrt: Sie bringen das Streben nach einer freien Literatur und Presse als Bedingung freiheitlicher Entwicklung nach den Verheerungen von Nationalsozialismus und Kommunismus zum Ausdruck.
Die Essays ab 1981, als Gruša in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, sind von anderer Art; jetzt konnte Gruša unzensiert schreiben, auch in englischer oder deutscher Sprache, wenn er auch erst „in der Sprache meiner Freiheit“, wie er das Deutsche nannte, heimisch werden musste. Die Trennung von Prag, von Familie und Muttersprache, die neuen politischen und gesellschaftlichen Strukturen, in denen er nun lebte, auch die Sorge um die Zukunft Mitteleuropas, all dies spiegelt sich in den Essays nach 1981. Das Ringen um die Kompetenz in der neuen Sprache brachte Gruša bis an die Grenze seiner Kraft, dann fand er den glänzenden Stil im Deutschen, den er im Tschechischen erreicht hatte. So zeigen diese Essays Gruša als einen weitschauenden, scharf analysierenden, pointiert formulierenden europäischen Intellektuellen von Rang.
Der Prager Herausgeber Dalibor Dobiáš, der noch mit Gruša vertrauensvoll zusammenarbeitete, hat die Essays zusammengestellt, mit sachkundigen Anmerkungen versehen und so dem heutigen Leser erschlossen.
Jiří Gruša, geboren 1938 in Pardubice (Böhmen), gestorben 2011 in Bad Oeynhausen, Studium der Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität. Mitwirkender am Prager Frühling; Journalist, Lyriker, Prosaist, Essayist, Übersetzer, Arbeitsloser, Schriftsteller, Intellektueller, Dissident, Politiker, Botschafter und inniger Freund von Václav Havel. Präsident des Internationalen P.E.N.; von 2005 bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien; zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.
1 Der bedeutendste damalige tschechische Literaturkritiker Arne Novák in einer Rezension des Golems von Meyrink, veröffentlicht in der Tageszeitung Agrarpartei Venkov am 12. Mai 1917
2 Prag ist im Tschechischen weiblich.
3 Julius Kraus: Prag. Ein Roman von Völkerzwist und Menschenhader. Wien/Leipzig 1908.
4 Näheres in der Studie: über die deutsch-tschechische erotische Faszination von Pavel Eisner: Milenky, Praha. 1930
5 František Kaufmann im Vorwort (Kafka a Milena) zur tschechischen Ausgabe Briefe an Milena: Dopisy Mileně. Praha 1968.
6 Jaroslav Dresler in der Studie Kafkas Milena. Milena Jesenská. Cesta k jednoduchosti, erschien in der Edtion Archa, Eggenfelden 1982
7 Häufig zitiertes Zeugnis des tschechoslowakischen Literaturkritikers Josef Kodíček, eines Angehörigen der Generation Milenas, der nach 1948 emigrierte. In the Mood 535. Radio Free Europe. Cs. Broadcasting, München 11. Juni 1953.
8 Milenas Aufsatz “O umění zůstat stát”, Přítomnost, 5. April 1938. S. 205. Es geht um einen Aufsatz, mit dem Milena auf die deutsche Okkupation der Tschechoslowakei reagiert: “Stehenbleiben” ist also ein Anruf an das Volk.
9 Nach Jana Černá: Adresát Milena Jesenská, Praha 1969. Erinnerungen der Tochter Milenas, Jana Černá, die in Prag noch erscheinen konnten — in begrenzter Auflage, die dann zurückgezogen und vernichtet wurde. Jana Černá (1928-1981), tschechische Schriftstellerin mit tragischem Schicksal, ist eine authentische Zeugin vor allem für die “Familientradition” und die Atmosphäre der Jesenkýs. Unser Zitat ist auf S. 8. des Buches.
10 Vgl. Jana Černá, S. 22 und 23, Jaroslav Dreseler, S. 95, psychologisch bedeutend erscheint vor allem jene Szene, in der Jesenský — plötzlich zu einer schon vor sich gehenden Abtreibung erscheinend —die Tochter mit endlosen "Zahlmärchen" von Schafen, die in unendlicher Anzahl über einen eng Steg gehen, beruhigt.
11 Briefe an Milena. Frankfurt am Mai 1952 S. 122. Die Frage der “lesbischen Disposition” bei Milena Jesenská wird in Jaroslav Dresler, S. 95. positiv beantwortet durch das Zeugnis des Schwagers von Milenas vermuteter Partnerin. Als Fama hat sich diese Behauptung (polemisch schon vor Margarete Buber-Neumann verzeichnet in Kafkas Freundin, München 1963) in Prager Kreisen, die Milena kannten, noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch Jana Černá, S.15, eine Erinnerung an eine bedeutende tschechische Schauspielerin verzeichnend und ihren Versuch, Milena erotisch zu initiieren. Die Notwendigkeit, diese Geschichte ( Černá behauptet, sie als Kind von Milena selbst gehört zu haben) weiterzugeben oder überhaupt aufrechtzuerhalten, spricht für eine gewisse “Dringlichkeit” des Themas.
12 Jana Černá, S. 25 und in den handschriftlichen Erinnerungen von Slávka Vondráčková: Deset adres Mileny Jesenské (Milena v stínech i v slunci). Praha: inoffizielle Samisdat-Aktivitäten 1983 (Hrsg. von Marie Jirásková, ebenfalls von ihr das Vorwort), S. 16. “Brod irrte daher oder war nicht vollständig informiert, wenn er anführt, daß Milena in Wien mittellos war”.
13 Milena Jesenská: Feuilleton “Meine Freundin”, Tribuna, 27. Januar 1921, erschienen unter dem Pseudonym A.X. Nessey
14 Aus einem Brief von M. Husníková, veröffentlicht in dem Buch von S. Vondráčková (s. Anm. 12), S.29
15 Wertung Růžena Grebeníčkovás im Vorwort zu einem anderen Buch von Slávka (Slava, Jaroslava Vondráčková: Kolem Mileny Jesenské, Praha: Samisdat-Aktivitäten 1978.
16Charakteristik dieses Idoms in Duden. Stilwörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim 1970. Im Jahre 1910 schreibt der Zeitgenosse Kafkas, Christian Morgenstern, sein bekanntes Gedicht “Das böhmische Dorf” mit den Versen: “unverständlich blieb ihm alles dort,/ von dem bis bis zum letzten Wort” (Palmström).
17 Jana Černá, S.37: “So quartierte Ernst in ihre gemeinsame Wohnung noch seine Geliebte ein, eine nicht besonders intelligente, aber sehr schöne Frau …. und so lebten alle drei zusammen.” Diese Benevolenz würde für eine Art Bisexualität zeugen (egal ob realisiert oder nicht); auch das exzessive Verhältnis zum Vater wird hier mehr als gegeben. Die Atmosphäre um Polak ist auch bei Else Kornis interessant beschrieben: Kindheit und Jugend im alten Prag, Bukarest 1972.