Joseph Roth

Pulverturm, PragWenn ich keine Sehnsucht nach Paris hätte, so hätte ich Sehnsucht nach Prag. Es ist eine Stadt, in der ich niemals zu Hause war und in der ich jeden Augenblick zu Hause sein kann. Man braucht in Prag nicht “verwurzelt” zu sein. Es ist eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität.


Aber ich lebe seit fünf Jahren in Berlin. Ich sitze da wie im Wartesaal eines großen Bahnhofs und warte auf den Zug. Um mir das Geld für die Fahrkarte zu verdienen, handle ich inzwischen mit Büchern und Zeitungsartikeln. Es ereignet sich viel in diesem Bahnhof, man kann schreiben, man sieht allerhand fremde Völkerstämme, Arier, Professoren und deutschnationale Juden, Generäle von Bahnhofskommando und gefallene Soldaten. Eine Familie erwartet eine Tante aus Dresden mit Militärmusik, man spielt “Deutschland über alles”, und die Gepäckträger entblößen ihre Schultern von der Traglast, und alle müssen aufstehen, auch wenn sie dabei sind, ein Wiener Schnitzel aus der Tunke zu heben.
Am Tage wandere ich durch den Bahnhof Berlin, die eiligen Reisenden stoßen mich, den Beamten bin ich im Weg, der Polizeipräsident mit der roten Mütze erteilt mir Verbote, der Schaffner ertappt mich bei ihrer Übertretung, die ebenfalls verboten ist. Des Nachts schlafe ich in leeren Wartesälen, die mit Frühstück zu vermieten sind und denen sich Klaviere mit Hirschgeweihen befinden. Vom Standesamt erhalte ich die Erlaubnis zum Empfang nächtlicher Besuche, am Abend lasse ich mich trauen, des Morgens scheiden. Denn man achtet hier auf die Moral. In der Früh weckt mich die Witwe eines höheren Offiziers, die den Wartesaal instand hält und Mieter mit solider Konfession bevorzugt. Sie trägt ein Hakenkreuz am Adamsapfel.
Hierauf begebe ich mich in die Abteilung für Herren, erhalte Instruktionen vom Verwalter, der ein Eisernes Kreuz trägt und mit seinen Besuchern Gelenksübungen macht. Der Vormittag findet mich in einer Fütterungsstelle, da stehen wir alle mit Eßnapf und Trinkeimer und bedienen die Kellner, die hier polizeilichen Charakter haben. Jede Unhöflichkeit einem Kellner gegenüber wird als Amtsehrenbeleidigung geahndet.
Am Nachmittag schreibe ich an einem Stollwerck-Automat: Ich werfe einen Münze in den Spalt,und unten fällt ein Einfall heraus, wenn man kräftig zieht. Manchmal ist der Automat verstopft. Dann müssen die Schriftsteller Konventionalstrafen bezahlen. Um mir die Zeit zu vertreiben, gehe ich in die Polizeistation und schreibe Meldezettel. Dadurch [macht] man sich in Berlin beliebt.
Am Abend sitze ich im Kino. Man gibt den Kolossal-Monumental-Film der Decla-Bioscop: “Deutsche, trinkt deutsches Bier!” mit Massenszenen von Lubitsch und Henny Porten als deutscher Heldenmutter, und die Kapelle spielt den Fridericus-Rex-Marsch. Ein paar Wartesäle sind als Kaffeehäuser aufgemacht, sie dürfen ohne Perronkarten nicht betreten werden; man muß sie vom Portier knipsen lassen.
Es ist mir gelungen, hier etwas Geld zu verdienen, mit dem ich mir verschiedene Sekkaturen leisten kann, den in Ankauf von Briefmarken, die Bezahlung der Einkommensteuer und den Genuß des Kaffees. Ich bin auf dem Bahnhof geradezu heimisch. Die tiefe Kniebeuge ist mir wegen des guten Verhaltens erlassen. Ich mache nur noch Saltutierübungen.
Heimweh nach Prag

Dennoch habe ich, wie gesagt, Heimweh nach Prag, und im Paß ein tschechoslowakisches Jahresvisum. In Paris möchte ich die Sonntage verbringen und die Wochentage in Prag. Hier sind die abstrakten Kosmopoliten, in denen die Welt als Wille lebendig ist und die den Willen zur Welt nicht brauchen. Sie haben alle Schmerzen gelitten, alle Freuden genossen, und weil sie nichts mehr überraschen kann, suchen sie keine Überraschungen. Sie sind Skeptiker, aber sie lieben ihr Leben, das Leben in Prag. Alle Stimmen der Geister, die in der Welt verstreut sind, gelangen konzentrisch nach Prag, denn alle Geister in der Welt stammen aus dieser Stadt, oder es war ein Irrtum der Schöpfung. Wenn sie sentimental in Paris, pathetisch in Berlin sachlich und roh in Amerika geworden sind, flugs kehren sie nach Prag heim, in den Schoß der mütterlichen Skepsis und lassen sich auslachen, bis sie gesund werden.
Ich muß es auch rhythmischen Gründen wiederholen, obwohl ich nicht zweifle, daß man es mir glauben wird: Wenn ich nicht so viel Sehnsucht nach Paris hätte - ich hätte Heimweh nach Prag.

Prager Tagblatt, 25.12.1924
Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag, S.133 - S. 135

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