Jiří Gruša

Franz Kafka - Jaroslav Hašek 


Jiří Gruša WerksausgabeJiří Gruša (im Bild eingeblendet oben links), Werkausgabe, Wieser Verlag. Vorstellung eines weiteren Bands der Jiří Gruša Werkausgabe am 28.3.2017 im Österreichischen Kulturforum Prag von Lojze Wieser, Verleger (rechts)

 

Lojze Wieser "Jiří Gruša war einer von jenen, die seiner Zeit immer um vieles voraus gewesen ist. Wie sehr, das merken wir mehr und mehr wenn wir seine Essays, heute — jetzt — lesen".


Auch Jiří Gruša ging nicht ganz von allein, fort. Er wusste schon zu Hause was zu sagen, und das Erzählen ward ihm auch bald verboten. Hier ging einer fort, der gar nicht gehen wollte, kam an in einer fremden Stadt und war den einstigen Pass auch bald los. War ein Staatenloser nun, einer, der dann später, in den deutschen Landen, wieder Heimat fand und einen Pass. Und der, der immerfort, dem Wort vertraute, kann nicht verloren gehen, auch wenn er gehen muss, findet er in den Versen sein Ruhekissen und in Romanen seinen Schweijk. In ihm die Kraft, der Welt zu trotzen. Fragt nicht nach Nutzen, wenn er seine Unterschrift auf ein Papier setzt, das ewig währen wird, weil die Tinte, mit der er's tat mit seinen Kumpanen, Charta hatte. Nicht fragt, ob der Mut belohnt wird und unterwegs so manche falsche Krone traf, die nach Bezahlung lechzte. Es zahlt sich aus, Mensch zu sein und einfach aufrecht. Uns hat er mit Kumpanen gezeigt, was es heißt, von Dauer zu sein. Ob auf Papier, oder nicht, das Wort im Herzen aufbewahrt, wird Papier bei Weitem überdauern.
So fand er sich in fremden Ländern und war doch immer bei sich zu Hause, und wenn er daheim war bei sich, war er meist ein Fremder. Gerade drum war er wohl immer dann, wenn er gebraucht wurde, da. Tat, was er tun musste und schöpfte aus dem Wort-Brunnen in seinem Herzen. Als Politiker und Diplomat, als Schriftsteller und Präsident. Denn, er wollte immer alles, alles sagen. Sein Witz und das Lächeln seiner Augen sagen uns jedoch noch heute, was in Wort nicht zu fassen ist. Er hat uns was zu erzählen. Achoi! 
(Ante scriptum zum Buch Antworten. Zum 70. Geburtstag von Jiří Gruša, 2008)
Lojze Wieser  - Seite 153, Im dreißigsten Jahr - Weitere Anmerkungen eines Grenzverlegers

 

Um das gestrige, heute, zukünftige Tschechien zu verstehen empfehle ich die Werkausgabe Jiří Gruša, Wieser Verlag, zu lesen. 1938 in Pardubice (Böhmen) geboren, studierte Jiří Gruša  Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität. Am Prager Frühling hat er sich als Journalist, Prosaist, Essayist, Schriftsteller aktiv beteiligt. Das machte ihn zum Arbeitslosen, Dissidenten, nach der samtenen Revolution zum Botschafter in Bonn, tschechischen Bildungsminister, Botschafter in Wien. Er war ein Freund von Václav Havel, Präsident des Internationalen P.E.N und von 2005 bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien. Jíří Gruša starb im Oktober 2011, sein Wirken, seine Werke erhielten zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Grundlage der zehnbändigen Werksausgabe Jiří Gruša ist die in tschechischer Sprache erschienene und von Dalibor Dobiáš betreute Werkausgabe im Barrister & Principal Verlag. 
Milena Findeis


 

Zwei Aufsätze zum hundertsten Jahrestag (1983)

Jiří Gruša

Diese beiden Essays schrieb Jiří Gruša als Dissident, nach seiner Ausreise im Dezember 1980 in den Westen über München, Toronto und von dort aus nach Bonn. "Dvě stati k stému výročí" für die Zeitschrift Listy 13, im Jahre 1983. In deutscher Sprache "Der Schuß von der Marienschanze" und  "Ausflug in die Geschichte" .


1. Der Schuss von der Marienschanze

Aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt von Michael Stavarič


"Raban schaute auf die Uhr eines scheinbar nahen, ziemlich hohen Turmes, der in einer tiefer gelegenen Gasse stand. Eine kleine, dort oben befestigte Fahne wurde, für einen Augenblick nur, vor das Ziffernblatt geweht. Eine Menge kleiner Vögel flog herab, fest aneinander geschlossen und auseinander gespannt. Es war fünf Uhr vorüber. Raban stellte seinen mit schwarzem Tuch benähten Handkoffer nieder, lehnte den Schirm an einen Türstein und brachte seine Taschenuhr, eine Damenuhr, die an einem schmalen, schwarzen, um den Hals gelegten Band befestigt war, in Übereinstimmung mit jener Turmuhr ..."

Diese eigentlich kleinstädtisch-idyllisch anmutende Szene aus Kafkas frühem Romanfragment Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande ist mit einer Genauigkeit in Prag angesiedelt, dass sie auf einem Stadtplan eindeutig zu bestimmen ist. Prag hatte sich damals, etwa 1907, noch nicht in jenes Überall und Irgendo verwandelt (wenn auch für das tschechische Auge immer die ursprüngliche Höhenlinie des genius loci durchscheint), das die synthetische Landschaft des reifen Kafka bilden wird. Und es war jene Fahne, die — zum Zeichen, dass astronomisch (eigentlich astrologisch) alles noch (heute noch) in Ordnung ist — auf der Galerie der Dientzenhofer'schen Sternwarte im Klementinum, wo man den Stern des Reiches bewachte, Tag für Tag in Richtung Hradschin aufgezogen wurde. Mittag für Mittag gab der Verweser der k.u.k. Zeit dem k.u.k. Feuerwerker, der das Geschütz auf der Marienschanze bediente, damit das Zeichen zum Schuss. Die Zeit der Türme konnte so aufs Neue abgestimmt werden, die Beamten stellten die Uhren, und auch die Prager versuchten, ähnlich wie Raban, wenigstens für diesen Moment und irgendwie instinktiv in althergebrachter Weise ihre innerlich abweichende Zeit mit der von Stein und Turm in Übereinstimmung zu bringen. Als ob mit dieser Geste die Unsicherheit überwunden werden könnte, als ob in der Zeit überhaupt irgendein Dauern enthalten wäre. Denn das Maß auf dem Turm ist eine Institution, es ist (oder war) eigentlich Asyl —und mit ihm übereinzustimmen, bedeutete auch, in seiner alten, unstreitigen Seligkeit geborgen zu sein. Doch die Uhren in Böhmen gingen schon verschieden. Im Judenviertel sogar nach außen hin rückwärts, und in den Palästen der Kleinseite war es, als ob sie A. D. 1806 stehen geblieben wären, denn dorthin wies das Zifferblatt des alten römischen Reiches. Und die tschechischen schienen aus dem Takt — wenn es denn überhaupt Uhren waren und sich die tschechische Seele nicht immer noch bäuerlich an der Sonne und an den Hühnern orientierte. Während es schien, dass der deutsche Chronometer immer hektischer tickte, voller Ungeduld, irgendeine Ordnung zu schaffen, irgendein Entweder-Oder, irgendein Zählen wieder von null an aufwärts, von wo man übersichtlich zählen konnte - als ob die Null nicht eine zwar kleine, doch kaum zu übersehende Möglichkeit böte, sich herabzulassen ins Reich der negativen Zahlen.

Nein, nein, die Zeit in Böhmen war erschüttert, und nur der Schuss rief zu einer wenigstens formalen Korrektur. Dann jedoch verklang das Dröhnen, und die aufgescheuchten Tauben kehrten jede zu ihrem Krümelchen zurück, zu ihrem Stein im Pflaster Prags.

Jede Form des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit, auch jede Form des Herrschens und Beherrschens und auch jede Beziehung zum — sagen wir — Übersinnlichen war unsicher geworden. "Schloss", "Ghetto" und "Dorf" als bisher gültige Symbole der Verankerung gerieten in Bewegung, und Prag als Legierung dieser drei, als das größte Dorf, als die größte der Kleinstädte, schwamm eigentlich schon auf einem Eisberg. Vorbereitet hatte sich diese tektonische Verschiebung schon lange. Damals schon, als das nachreformatorische Böhmen von oben und mit Gewalt rekonstruiert und ihm gerade in dieser, der barocken Kultur eine Einheit aufgezwungen wurde, die zwar den bisherigen Partikularismus des Glaubens und der Politik überwand, jedoch auf dem Prinzip der Rollenteilung zwischen Schloss und Dorf beruhte (mit dem angeklebten Bienenstock des Ghettos), damals schon also stellte diese Teilung im Unterschied zu anderen Ländern nicht nur eine soziale, sondern auch eine mehr oder weniger ethnische Schichtung dar — jedenfalls dort, wo diese drei Bestandteile ihren deutlichsten Ausdruck fanden. Bei aller Blutigkeit ihres Entstehens war diese Gemeinschaft schließlich fruchtbar und kennzeichnete ihre Akteure auf Dauer. Äußerlich freilich zusammengeflickt durch Habsburger Rohgarn - durch die eigentlich "konfuzianische" Institution des Kaiserreiches also mit seinem Mandarinismus der Beamtenschaft, mit seinem vom Ausland abhängigen Adel und mit einem Militär, das in erster Linie eben das Militär des Reiches war (und dann erst Böhmens) — konnte sich diese fast "chinesische" Staatsreligion (deshalb ist auch die chinesische Metaphorik bei Kafka nichts Exotisches) nur so lange halten, wie ihr barockes Fundament dauerte, oder so lange, wie sie durch es und in ihm transzendierbar war.

Sie zeigt zwar noch eine unglaubliche Lebenskraft im fast hundertjährigen Kampf mit der Aufklärung, die (ähnlich wie Kafkas Nomaden) aus dem Norden kam, aber schließlich unterliegt sie ihr. Der staatliche Versuch, die Vergangenheit dorch irgendwie zu erneuern, bleibt im Biedermeier stecken, in jener "Verstandesromantik", deren üppige Blüte jenes Zeitalter überspannt, in dem vielleicht eine andere Einheit in einer Art — sagen wir — Wahlverwandtschaft erreichbar gewesen wäre. Deshalb ist der Augenblick, im dem ein gewisser Hermann Kafka geboren werden "darf" (denn die Bindung an Ort und Schicksal entfällt), auch der Augenblick, zu dem von unten jene Bewegung begonnen wird, in der das einst von oben Verbundene sich aufs Neue in seine Bestandteile auflöst. Das Schloss schließt sich, fast instinktiv, um so mehr in sich zusammen. Es ragte auch so schon eher stiefväterlich als väterlich über die Gegend, es wird deshalb nicht schwerfallen, es für fremd zu halten und natürlich ohne "auctoritas" (ohne Autorität, aber von "augere" — "sehen", "vor Augen sein", "sich selbst offenbar sein" — her verstanden), denn die Augenfälligkeit seines Sinnes wird infrage gestellt, ohne dass es selbst aufhört, Sitz der Lebensfülle und des Willens zu sein. Das unterstreicht nur das Anderssein des Schlosses, sein Geheimnis, das jedoch anlockt - ähnlich wie jene dreizehnte Kammer, in die zu gehen zwar verboten ist, die aber um so mehr reizt, geöffnet zu werden — falls überhaupt etwas darin ist. So wird das neunzehnte Jahrhundert in Böhmen zum Jahrhundert der Eroberung des Schlosses oder — mit Kafka — des Versuches, auch dort einzudringen. Das Dorf entvölkert sich — paradoxerweise: denn es wird größer. Ja, gerade in dem Maße, in dem es eine typisch tschechische Kommune war und also zweckvoll reduziert auf sein chthonisches Wesen, auf sein "Slawentum" und dessen doch eher matriarchalischen Charakter (in dieser Hinsicht war es ohnehin dem patriarchalischen Schloss unverständlich — ein böhmisches Dorf). Es ist zwar entschlossen, sich dieses Bauwerks auf der Anhöhe zu bemächtigen, aber der Weg nach oben führt vom bekannten Boden — und bedeutet Verlust, bedeutet "Bodenlosigkeit". Und wieder paradoxerweise: In den Werken größerer Lebensfülle und Wollens heimisch zu werden, bedeutet gerade von diesem Punkte an in Übereinstimmung mit dem vergangenen (allem vergangenen) Wollen zu wollen, oder: herrschaftlich zu wollen. Dafür aber war die Unterbrechung zu lang, und keiner Berufung auf den Status quo ante ist es gelungen, die eigene Ratlosigkeit und die tiefsitzende Gewohnheit, sich ein Stockwerk tiefer zu bewegen — unter dem Schloss —, gänzlich zu überbrücken. Der tschechische Weg zur Geschichte beginnt deshalb mit der in gewisser Weise kindischen Bejahung von Geschichtslosigkeit. Diese Eroberer des Schlosses werden gefährlich stigmatisiert sein: in ihrem plebejischen Verhalten. Und auch das Ghetto öffnet sich. Und ebenso trügerisch. Als ob es sich da inmitten einer Kluft befände, die zwischen Dorf und Schloss entstanden ist. Eigentlich geht es wohl eher unter, und diejenigen, die sich herausarbeiten, stellen plötzlich fest, dass sie ihr Woher weiter mit sich tragen.

Drei Zeiten ticken unterschiedlich. Drei Gemeinschaften sind in ihrem Wesen vom Verlust der Identität betroffen. Das ist der "Prozess", der hier abläuft, und Österreich, diese "Menschheit im Kleinen", ist ihr Weltlaboratorium. Der Schuss von der Marienschanze kann das nicht mehr überdecken. Eher unterstreicht er die provinzielle Einrichtung des Laboratoriums, die derart im Kontrast steht zur Bedeutung des Versuchs, der hier stattfindet. Ja, die Szene ist die Kleinstadt, denn Dorf und Schloss und natürlich auch das Ghetto haben sich bei all ihrem verbissenen Voneinander-Ablösen in dieses biedere und grausame Nest des Kleinen nivelliert, in dem die Groteske blüht. Denn auch sie ist bieder — und grausam.

Noch sind hier alle beisammen. Noch kommt aus ihrer Mitte, aus der Mitte Böhmens und aus der intimsten Mitte der Stadt dieser F. K. Noch planen sie die Zukunft — als das, was im Rhytmus der Zeit, dieser ihrer Zeit, für sie arbeitet. Nur in jener Kluft — in der das ehemalige Ghetto sich befindet —, nur in ihr und nur (am ehesten) aus ihr lässt sich ersehen, dass die Zukunft auch etwas sein kann, was auf den Menschen herabstürzt. Dass die Zeit auch das Ende der Zeiten sein kann und der Gegenwart'  Fehlen und Fragen — vernichtende "Verwandlung". Die Augen Raban-Kafkas sind aufnahmefähig. Im Unterschied zu denen aus dem Schloss haben sie die Erfahrung der Paria (gemeinsam mit dem Dorf), aber sie sind nicht plebejisch, denn in ihnen leuchtet das Bewusstsein uralter und auserwählter Herkunft. Und natürlich auch der ererbte Sinn für die Endzeit, und für das "Gericht" über sie. Deshalb kann K. quer zur Zeit gehen — durch jene Vergegengewärtigung, die noch nicht im gerade Vergangenen ist. Er kann "die Zeit aufheben", ohne dass sein "Jetzt und Gestern" vergeht. Später wird er schreiben: "Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten: denn er will ihn nach vorn drängen; und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten: denn er treibt ihn zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, dass er einmal in einem unbewachten Augenblick — dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster, wie noch keine war — aus der Kampflinie ausspringt und nach seiner Kampfeserfahrung sich zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhebt."

 

2. Ausflug in die Geschichte

Aus dem Tschechischen übersetzt von Michael Wögerbauer

"Allen Angehörigen der tschechoslowakischen Revolutionsarmee wird strengstens befohlen, Jaroslav Hašek, möge er sein, wo und wann er wolle, festzunehmen und unter Bewachung vor das Feldgericht zu bringen", ordneten die tschechischen Legionäre per Befehl Nr. 203 von 1919 an, und von da an machten sich Jäger auf, um Hašek festzunehmen und in irgendeinem literarischen Steinbruch hinzurichten. "Der Betreffende" versteckt sich freilich, kommt nicht zur Vorladung, steht nicht zur Verfügung. Und auch sein Schwejk wartet gewiss nicht (wie Josef K.), bis sie kommen, ihn zu holen, ja sogar, als er schon festgenommen ist, versucht er seine Henker noch zu überzeugen — wenn nicht von seiner Unschuld, so dann doch davon, dass er ihnen das Umbringen nicht wert sei. Genauer gesagt die Hinrichtung.

Und während tschechische Soldaten den Verräter durch die Umgebung von Omsk jagen, hat der "größte tschechische Schriftsteller" schon eine ganze Reihe von "Verraten" hinter sich. Eigentlich bleibt nur noch der letzte über, jener am Bolschewismus ... und dann zurück nach Böhmen, um "mit traurigen Augen" eine gewisse Geschichte über einen "Trottel bei der Kompanie" fertig zu schreiben. Es sind also knapp fünf Jahre, zu deren Beginn er sich — wegen des Haftbefehls — in einem Trottel verwandeln muss, "in eines deutschen Kolonisten aus Turkestan Sohn, der von Geburt an stumm und blöde ist."

Er hat Erfahrung mit Verwandlung. Viele hat er hinter sich, und sie waren vielgestaltig.

Wie beinahe jeder tschechische Mann der Feder stammt er noch höchstens zwei Generationen zuvor aus Rüpelhausen (tschechisch nicht "châteux" geschrieben, sondern "chaumières", eine stark-schwache Mutter, wie es sich wiederum für das tschechische Böhmen gehört; er wird also ein Student sein, der gegen die Schwüle des erotischen Prag ebenso kaum widerstandsfähig ist wie gegen das beständige Wetter der promiskuitiven Stadt, die sich schon entdörflicht, metropolisiert, und dabei ihren tschechischen cunnus unterstreicht. Der Sohn aus Lehrerbrut (oh tschechische Schreibe, Brachland der Supplenten!), wo es eben öde ist. Der Vater hat geendet, vermutlich im Trunk — also ein entblichener Vater, gegen den der Mutter laue Gerechtigkeit und Regierung-Nichtregierung steht (keine Onanie der Schuld wie bei den Kafkas), denn zu den böhmischen Söhnen spricht hauptsächlich die Mutter, etwas hysterisch, aber sensibel und willig. Auch vergebungsvoll, wenn man bei ihr beginnt (unter dieser Bedingung), verzeihend, nun, alles beinahe. Wenn er kein literarisches Talent gehabt hätte, so hätte er mit diesen Voraussetzungen eine Laufbahn als Berufserlöser und Berufsvergewaltiger (von einem gewissen Uljanow bis hin zum Klar der heutigen Terroristenszene sind das meist Muttersöhnchen aus Lehrerfamilien). So absolviert er das alles nur: Er wird Anarchist, ja inspiriert vielleicht sogar Expropriationen, wie man damals schon den soeben ideologisierten Raub zu nennen pflegte. Aber seine Sehnsucht nach Ordnung für andere, diese Libido alles Anarchischen, ist so frei von Selbstentsagung, dass man sie einfach nicht zur Ausdauer bewegen kann. Und so auch zu keiner Uniform, auch nicht zu jenem handgemachten Netz, d. h. zum Kostüm nach eigenem Geschmack, das, wenn man es lange genug (und mit reichlich Faszination) trägt, sogar zu einer Uniform werden könnte; es beginnt die Zeit der Rot- und Braunhemden. Als wäre er behext vom eigenen Trieb zur Nachahmung, zur Mimesis, aber nur zu gelebten, die nur als Ausprobieren begriffen wird und als zwar eröffnete, doch nie als Lösung akzeptierte Möglichkeit. Er legt seine Trachten einschließlich der städtischen ab, die er in der "Gartenlaube" angezogen hat für Jarmila Mayerová, die begabte Tochter eines bedeutenden Hauses. Er heiratet sie (Mutterbübchen plagen ihre Lieben nicht mit Abfuhren à la Franz), dafür aber reißt er schnell aus, obgleich er auf sein geordnetes Leben verweist. Auf der Brüstung der Karlsbrücke versucht er (frei nach dem Urteil) den Austritt aus der Ehe, indem er sich "zum Tode durch Ertrinken" verurteilt, doch es rettet ihn ein Wohltäter. Das Urteil wird schon bald vollstreckt. Hašek springt ins "bios", in eine unterschwellige Strömung des Lebens, wo er zwar nur langsam, aber doch ersäuft.

Der Frau hinterlässt er einen Sohn und ein bankrottes Geschäft mit Hunden. Er hat es ihr überschreiben lassen. Ja, ein Hundehändler, Clochard und Poet. Wie jeder Studenten-Böhme hat er mit Lyrik begonnen, um sich bis ans Lebensende über sie lustig zu machen, aber auch, um in einigen ausgesuchten Momenten kostbare und rohe Verse zu schreiben, zu deren Veröffentlichung es ob der tschechischen Prüderie (teilweise) bis heute nicht gekommen ist. Auch ein Betrüger und Dieb — und dann gemäßigt: ein Sozi ..., Boulevard-Humorist, Autor von Kalendergeschichten über Soldatentugenden (egal welche). Patriot und Vaterlandsverräter ... Viele Vaterländer haben sich ihm zum Verrat angeboten, und keins hat er verschont. Ja nicht einmal die Heimat der Proletarier, auch wenn die heutige Prager Hagiografie das fleißig retuschiert. Ein Renegat und Bigamist, Delinquent, Richter (in Russland war er Kommissar). Als ihm in Böhmen sein Vers vergoldet aufs Grab gesetzt wurde ("Austrie, tak zralá nebylas snad nikdy k pádu" — Austria, so reif zum Fall warst Du noch nie), fühlte man die Ungehörigkeit der Inschrift und ließ sie wieder entfernen. Und als ob sich jede Bestimmung bei Hašek gleich in einem Kalender verwandelte (vielleicht gilt das auch für den Kommentar, mit dem er selbst den Schwejk reichlich begleitet); so also wäre nichts je am festgelegten Platz. Diese Vielheit von Personae — desselben Individuums — überrascht immer noch. Auch beim besten Willen kann man unter ihnen keine "roten Faden" finden. Auch seinen Antipoden, den Dichtern, ist das nicht entgangen — sie sprachen von seiner "amorphen Seele", von seiner "Gleichgültigkeit der Menschheit gegenüber", vom "Verlust der Charaktere", "Narrenschellen" (Hašek - šašek) und vom "Schandebereiten".

Sie hatten ihn nicht gern; er nahm sich nicht ernst und bedrohte so ihre eigene Selbstachtung. Nur dann in Hašeks (Selbst-)Bagatellisierung immer auch eine zweite, eine Nebenbedeutung mitschwang: "... es wäre eine Versündigung am tschechischen Volk, wenn ich es darüber in Ungewissheit ließe, ob ich ein genialer Mensch bin oder nicht", sprach er als Gründer der Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken der Gesetze, dieses Dada vor Dada; sie haben gelacht, aber er, professionell schamhaft, wurde zu einem Synonym der tschechischen Literatur.

Es handelt sich um einen Skandal im "Dorf", denn nur dort lassen sich Polemiken gegen Hašek feststellen. So argumentierten Kleinliteraten, Leute, die im fruchtbarem Humus der aktiven und regen halbprovinziellen tschechischen Gesellschaft verwurzelt waren, eines literarischen Orts der Schulen und Schülchen, der Zeitschriften und Zeitschriftchen, dieses Opferplatzes der Prinzipien, der voll ist von Leidenschaft für kleine Themen, des Mileus der simplen Symbole, wo man das Nichteinordenbare gern als Unfähiges (!) ausschloss und wo das Gesetz galt: dass leichter besser ist; wo die Volkstümlichkeit gepriesen wurde, wo die intime Beziehungen zum Politischen knospen und wo — und das besonders — ein beinahe argloser Glaube an die Literatur herrschte. Oh, nichts für ungut, das ist eine Charakteristik, die Kafka 1910 niederschrieb, wobei er größtenteils von böhmischen Batrachomyomachen inspiriert war. Als tschechische Kleinliteratur dieser Zeit sehnte man sich nach der großen Welt, und wollte sie gleichwohl mit Schrittchen erobern, die die Zustimmung der Gemeinde hatten. Begründet war das durch die Pause, die das tschechische Böhmen absolvierte, nachdem es das "französische Jahrhundert" ausgelassen hatte — also den Klassizismus oder genauer gesagt das, was den neuzeitlichen Begriff literarischer Größe prägte. Die Aufgabe aller "kleiner Literaturen", zu wünschen und oft fruchttragend, war es, jene alte Axiologie in die Heimat zu verpflanzen — der Gemeinde einen "virtus" auszuverhandeln — der aus den Höfen und Schlössern stammte. Nur dass die Schlösser in Böhmen "leer" waren. Die große Verwüstung der Gegenreformation hinterließ sie "auf Tschechisch" unbewohnt; "Ordnung" konnten sie daher nur sehr gedämpft ausstrahlen. Die "guerre aux châteaux" — diese Rückkehr zur kulturellen und politischen Subjektivität, "in die Geschichte" — verlief dann wie ein Kampf mit dem Unfassbaren, Geheimnisvollen, ja mit etwas, das stark den Flügeln von Don Quichottes Windmühe ähnelte. Ein Schloss zu erobern hieß, das Dorf zum Schloss zu machen. Deshalb wurde der Dorfschreiber, etwa ein Unterlehrer, wenn er Schriftsteller werden sollte und das heißt: kaum hatte er einen Streit mit seiner Kommune gesetzt, auf seine Art ein Gentilhomme. Eifersüchtig und mit Recht hütete er diesen seinen Status. Dieses Aufholen dauerte eigentlich bis in Hašeks Zeit an und behandelte die ihm äußerlichen Phänomene oft stiefmütterlich, die mit ihrem Folklorismus, Historismus oder Romantismus trotz der ursprünglichen "chaumières"-Quellen (aus ihnen schöpfend und ihnen zum Trotz) Böhmen seine literarische Selbständigkeit eroberten. Deshalb verwundert es nicht, dass auch Hašek diese Stiefmütterlichkeit traf (muss es doch wieder einmal Max Brod, d. h. ein Blick von außen, sein, der auf Hašeks Größe hinweist), denn in diesem Sinn hat er "Schande gemacht". Er hat nämlich — in den Augen der Männer der "virtus" — alle "Schlosserei" abgeschrieben. Damit hat er "der Fremde" freilich die Bestätigung geliefert, dass die Tschechen durch kaum etwas legitimiert sind. So als sagte er: Schwamm drüber, wozu dieses Getummel, wir haben eben, wenn schon, zweierlei Geschichte, eine schon vergangene, als anderswo Racine geboren wurde, und eine zweite, die ich bin.

 Unerträglich musste das sein (und ist es immer noch). Ich fürchte jedoch, dass es stimmte.

Und noch mehr "shocking" klang, was er über das Wesen dieser neueren Geschichte (nicht nur der böhmischen, aber aus böhmischer Sicht besonders in ihrer Allgemeinheit) und über ihre Leere sagte. So als würde die Leere des Schlosses paradoxerweise übersiedelt, und produzierte fast von allein Unbewohnbarkeit. Unmenschlichkeit - ja Vertierung. Denn die Zeit der Monstren und der Themen aus der Welt der Tiere brach an. Neben "Josephine, der Mäusesängerin", dem "Riesenmaulwurf", den "forschenden Hunden", den "Katzenlämmern", also neben diesen Kafka'schen Kreaturen entstehen Hašeks "Flöhe des Ing. Khun" und seine "prähistorischen Maulwürfe (!!!)", und freilich auch der "verwirrte Wetterfrosch", ein getreuer Bruder der singenden Mäuse, der auch nur ein ungehöriges, abschließendes Quaken von sich gibt. Hašek betreibt das allerdings als Mystifikation, publiziert seine Entdeckungen für ein Fachpublikum, polemisiert und "verreißt" Fachleute, wenn die sich zu Wort melden, bis ihn der Chefredakteur - jener des Svět zvířat (Tierwelt) hinauswirft. Die gelebte Mimesis, die Mimikry und Selbstcollage, das fasziniert ihn. Und wenn Kafka einst schrieb, das Schreiben von zwei Seiten bedeute ihm mehr als zwei Stunden Leben, so schwört Hašek noch auf die biologische Zeit. Doch als Rolle, sodass das auch etwas wie Schreiben ist — schreiben mit dem eigenen Körper.

Doch die Geschichte, die herbeigerufene, ist schon sehr nah — und so "wüst", dass "zu erkennen ist, wie der Mensch in ihr verschwindet, bevor er Hoffnung schöpft." Im Dorf unterm Schloss war immer Platz genug für die Floh- und Maulwurf-Entdecker; in Kafkas Strafkolonie entsteht eine neue Welt und für die Hašeks hält sie "Paragrafen gegen Parasiten" bereit. (Ist es nicht von seltener Ironie, dass die heutige Tschechoslowakei per Paragraf Nr. 203 "Schmarotzer" fängt — zu denen der Autor des Schwejk nach nur einer seiner Eskapaden zählen müsste?) Der brave Soldat Hašek tritt seine Anabasis in die Geschichte (sein Abenteuer bezeichnet er oft als "Ausflug in die Geschichte") zum ersten und auf lange Zeit einzigen Mal ausgenüchtert an. An seiner Hüfte hängt der "Genosse Mauser", das Instrument der Menschlichkeit auf der "Animal Farm"; der kluge Kommissar weiß wohl, dass ein Augenzucken genügte, und die Waffe würde sich auf ihn richten. Im versoffenen Mütterchen Russland kostet eine Kugel ein Gläschen. Oh, sehr abstinent ist jetzt Gášek Járloslav. Mit großen Augen betrachtet er die Arbeit der Geschichte, wartet auf ein Wunder. Sie erinnern sich an ihn — nach Kontrollen, Zögern —, bevor sie ihm seine Nüchternheit glauben, schicken sie ihn als Provokateur nach Hause. So kehrt er ins Dorf heim, das chimärenhaft noch einen Augenblick in diesem Breitengrad andauert. In der Euphorie der Erorberung des Schlosses wird jetzt Böhmen zur Tschechoslowakei, der virtus hat gesiegt, wie es scheint. Mit seiner russischen Optik aber ahnt Hašek, dass die Verwandlung hier nur haltgemacht hat und ruht und dass sie (bald) einmal auch das Land des Fortschritts in den Schranken der Gesetze untergraben wird. Noch einmal: Das ist der zweite Sinn von Hašeks Scherzen, denn diese Heimkehr ist auch eine Bejahung des lebendigen Kerns der ehemaligen Dada-Persiflage. Er versucht, seinen Albtraum hinunterzuspülen, aber obwohl er der Vater der Rezepte für seltenes Selbstgebranntes ist — findet er kein Gemisch, das stark genug wäre. Er hatte gesehen, wie der neue Mensch ausgeholt hatte und wie seine Geschichte dem Leben eine eigenartige Nichtigkeit einhauchte. Er hatte gesehen, wie sich jene neue, nicht schlossähnliche Dominante Europas, die siegreiche "chaumière" fleißig dem Blockhaus anglich. Das Asyl im wirklichen Leben, das bisher Hašeks Domäne war, sein Fass des Diogenes, ist in der neuen Wirklichkeit auf Dauer unmöglich. Bleibt das Asyl der "Schrift". Auch Hašek gelten jetzt Seiten mehr als Lebensstunden. Die alte Story über den Trottel der Kompanie wurde entstaubt und mit dem Schreiben zum Tode begonnen. Schreiben als modus moriendi. Der "Trottel" wird in Dummkopf umbenannt, der ebenso neu ist wie der "neue Mensch". Ein Diener ohne Herrn wird geschaffen in einem Mileu der allgemeinen Dienerschaft; im neuzeitlichen Messianismus des Subalternen hat der subalterne Dummkopf noch eine Chance auf eine Art — Menschlichkeit. Schwejk wird zu einem gracianischen Oráculo manual der Bewegung und Behausung auf allen Appellplätzen. Es gibt in diesem Roman keine häufigere Situation als die des "gehorsamen Meldens". Lassen wir uns nicht dadurch täuschen, dass sich der, der meldet, ungehorsam stellt — schließlich meldet er. Alles, was er vollbringt, und ist Kunst (oder wird Kunst sein), ist, sich vor die die auschwechselbare "nicht-virtus" zu platzieren und dabei zumindest einen Fuß in das "bios" zu tauchen, in den "Leben-Lebensunterhalt", das seine Richtung und Dynamik hat, ohne Rücksicht darauf, welcher Sinn ihm von irgendwoher beigelegt wird. Das ist mitgeteilt. Und der Rat dabei ist, wie man darüber in stiller Selbstverdummung lachen kann und wie man dabei — nicht mordet.

 Selig sind sie dort, wo sie Schwejk nicht als Pamphlet oder Satire verstehen. Offensichtlich wird es aber nicht lange dauern, bevor sie sich über diese Dimension klar werden und eine seiner Devisen begreifen:

Wenns auch war, wies halt war, irgendwie wars,
denn noch nie wars, dass es nicht irgendwie war

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17.03.2024 Es taubt die Taube/ flatterndes Umgurren/ die Kanzel hinauf und hinunter/ gefangen in den Sphären der selbsternannten Gerechten

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