Etwas gemeinsam nutzen, etwas gemeinsam pflegen - diese fein gesponnen Fäden des Gleichgewichts: Geben und Nehmen. 

 

Der Lockdown in Prag, der erste begann am 13. März hat sich  am 24. April gelockert. Ab 25. Mai werden Hotels wieder öffnen. Ab 15. Juni werden wieder grenzüberschreitend Züge verkehren. Wanderungen und Spaziergänge mit und ohne Kamera waren immer möglich. Der Sucher wird vom Atem - durch die Maske - beschlagen. Mit der Kamera vorm Auge blendet sich eine weitere Ebene ein.

Am 22. Mai um 3.45 Uhr aufgestanden. Mit der Nachtstraßenbahn 99 bis Slavia gefahren. Die Sitzplätze der Straßenbahn füllen sich mit jeder Haltestation. Menschen in Arbeitsmonturen. Zwei junge Frauen mit Rucksäcken im anregenden Gespräch. Beim Umsteigen in die 22er ist es noch dunkel. Der Blick fällt auf eine hochschwangere Frau, an ihrer Seite ein Begleiter mit Rucksack und Decke. Die 22er ist beinahe voll. An der Station I.P. Pavlova steigt ein Großteil der Passagiere aus. Beim Aussteigen an der Station Národní divadlo dämmert es. Vor mir, entlang des Moldau Fußweges, gehen vor mir die zwei jungen Frauen aus der Straßenbahn. Sie frühstücken im Gehen: Banane und Coca Cola.

Vorbei an der angeblich größten Diskothek Europas (Karlovny Lazne) schwenke ich nach rechts zum Alten Brückenturm. Dort tummeln sich die Tauben. Karlsbrücke. Dieser wegen Überfüllung von mir seit langem gemiedene Ort beinahe menschenleer. In der Stille steigen Erinnerungen auf und mit ihr die Anziehungskraft, die vor drei Jahrzehnten stark gewesen ist.

Ein junger Mann, vom Akzent her aus der Ukraine stammend, hält mir ein Handy hin mit der Aufforderung, ich sollte ihm etwas über diesen Ort erzählen. Er würde ein Video drehen um dieses für eine Bewerbung für eine Agentur zu verwenden. Ich lehne dankend ab. Er spricht noch weitere vier, fünf Menschen an - niemand will etwas in den kleinen Apparat hinein erzählen. Bis auf einen Fotografen verneinen die anderen auf Englisch.

Das Schlendern, Schauen wird von einer hageren Gestalt mit Hut gestoppt: "Fotoshooting". Von einer Freundin, sie arbeitet für Filmagenturen, weiß ich, dass auf der Karlsbrücke für jede Aufnahmen per Stativ eine Genehmigung erforderlich ist und die Gebühren, um für Aufnahmen die Karlsbrücke zu sperren, wenn sie erteilt werden sehr hoch sind. Welches Shooting? Von weitem sehe ich die schwangere Frau von der Station Slavia wieder. Nackt. Gefolgt von der Kamera des Begleiters. Sonnenaufgang gespiegelt am Bauchnabel.

 

Gegen 6 Uhr nach Joggerinnen und einem Mönch in weißem Gewand, betreten Arbeiter das Gerüst auf der Karlsbrücke, hinter denen sich eine Skulptur befindet. Restaurierungsarbeiten. Zum Niederknien diese Morgenstunde an einem Freitag mitten auf der Karlsbrücke. "Ein Gemeingut oder Kollektivgut ist ein Gut, das für alle potenziellen Nachfrager frei zugänglich ist" laut Wikipedia.

Anfang Juli, ausgestattet mit Masken und Desinfektionsmittel, mit der Bahn nach Zeltweg gefahren. Einen Platz im "stillen Abteil" gebucht, dort ist meist weniger los, da dort das Telefonieren verboten ist. Es ist ein schöner Tag, gehe zu Fuß vom Bahnhof zu Mamas Haus.Vorbei am Friedhof, wo Papa im Herbst 1995 beigesetzt wurde. Acht Stunden Zugfahrt, Umsteigen in Bruck an der Mur, in den Regionalzug nach Zeltweg. Mama ist im Juni 81 geworden, hat immer wieder Herzaussetzer, doch sie will keinen Herzschrittmacher "solange ich Maske tragen muss". Wo sitzt die Angst, oben im Kopf oder mitten im Bauch, weht sie - Erinnerungen an Tschernobyl - strahlend durch die Lüfte, unsichtbar fürs menschliche Auge?  Mich ihr stellen, nicht davonlaufen. Wie vor jeder Reise, Nervosität, dieses Mal hatte sie sich verdoppelt. Jahrzehnte ziehen vorbei. Drei Tage umgeben vom Geschmack der Kindheit, Küchengespräche. Mama spricht das sie alles vorbereitet hat, in einem Kuvert das Geld für ihre Beerdigung. Sie will verbrannt werden, das Grab des Vaters soll aufgelöst werden, denn wer wird dieses pflegen, wenn sie  nicht mehr ist. Ungepflegte Gräber findet sie unpassend. Die vom Alter gewandelte Wahrnehmung. Sie geht unter die Haut. Mama ist so schmal geworden, es steht ihr. Bei ihrer Hochzeit, damals war sie mit mir schwanger, noch nicht 18 Jahre, wog sie weniger als ein Zementsack. Das ist mir aus Omas Erzählungen in Erinnerung. Der vom Leben gespannte Bogen, Anfang und Ende. Aussöhnen, wie einzelne Wörter klingen beginnen, mitschwingen oder dagegen schwimmen. Mitunter stehen bleiben, verankert im Moment. Drei Wochen danach bricht Mama in der Küche zusammen, wird von ihrem Mann wiederbelebt, der die Rettung ruft. Sie wird ins Landeskrankenhaus Knittelfeld gefahren, darauf besteht ihr Mann. Sie erzählt mir am Telefon, vor dem Eingriff, dass die Frau neben ihr - mitten im Frühstück, sie hat sich mit ihr unterhalten - verstorben ist. Herzstillstand. Mama wird der Herzschrittmacher eingesetzt, kann das Krankenhaus nach fünf Tagen verlassen, nach einem Monat wieder mit dem Rad fahren. Als ich sie Anfang September wiedersehe, bin ich überrascht, wie agil und stabil sie ist.


Mitte September zeichnet sich das ab, was ich nach Beobachten des Geschehens um mich befürchtet habe, ein neuer Lockdown steht bevor. "Eigenverantwortung" - Abstand halten, Hygiene und möglichst wenig Kontakte und wenn, dann mit Maske, das ist nach den Lockerungen vergessen worden, so als wäre Covid-19 verschwunden. Ab 22. September gilt in Tschechien wieder der Notstand, Senatswahlen wurden durchgeführt, innerhalb von zwei Monaten zwei  Mal ein neuer Gesundheitsminister bestellt. Mir nahe Menschen, die vorsichtig waren und sind, wurden positiv getestet. Seit dem erscheint mir das Wort positiv mit einem negativen Vorzeichen. In Österreich, Deutschland wird der Alltag runtergefahren. Es schaut ganz danach aus, dass dieser Advent weniger geschäftslaut sein wird. Es war einmal mein Wunsch, als Einsiedlerin zu leben. Das Jahr 2020 erleichtert mir, das versuchsweise in den Alltag hineinzunehmen. 

 

21. November 2020, Prag AUGnerin

 

Morgenstunde, Karlsbrücke

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