"Es war ein schöner Tag, es erfrischt, siebzig geworden zu sein." D. —
Das Leben ist Seinsgrund, gerade jetzt.
Im März, Ausgangssperre in Prag, erlaubt waren Einkäufe, der Gang zur Arbeit und seit 16.3. bestand Maskenpflicht. J. bat mich, um seiner Arbeit - die lange Schichten hat - nachgehen zu können, Masken zu nähen. Ein Leintuch aus hochwertiger Baumwolle, Bänder die ich gekauft hatte, um alte Kleidungsstücke zu erneuern, Nadel, Zwirn und eine Anleitung aus dem digitalen Netz die Ingredienzen. Die Anleitung in tschechischer Sprache. Die symphatische Dame, eine Modedesignerin, sprach - wie fast alle Tschechinnen - schnell. Einige Male rückspulen. Aus Karton das Schnittmuster fertigen. Über Nacht entstanden drei Masken, handgenäht. Um 5 Uhr morgens, vor Schichtbeginn konnte ich drei Masken liefern. Um mehr zu schaffen, das leuchtete mir - des Nähens unbedarft - ein, bedarf es einer Nähmaschine. Suchmaschine an, wo ist online eine Nähmaschine erwerben? Jene der Marke "Singer" hatte in Tschechien eine lange Lieferzeit - Auslieferung beginnend mit Anfang Juni. Die Suche nach einem praktischen Modell für Anfänger wird fortgesetzt. Nach eintägiger Suche fündig geworden: Guzzanti GZ 116, geliefert von DATART, 24 Stunden später. In den Pausen mit der Hand weitergenäht, da J. die Maske nach zwei Stunden gegen eine frische ersetzt. Von Freundinnen erhielt ich Signale, dass auch sie Masken benötigen. In Erinnerung, eine Szene vor dem Lebensmittelmarkt: ein gepflegter Mann, jenseits der 70, will einkaufen, er hat keine Maske - er wird nicht ins Geschäft gelassen. Die Polizei wird gerufen. Wenn ich jetzt eine Reservemaske dabei hätte, könnte ich sie ihm schenken ... Um Mitgefühl zu bekunden, drücke ich ihm etwas anderes in die Hand, die Polizistin, der Polizist schauen mich an, sie fragten ihn nach seinem Personalausweis. Ich hatte beim Einkaufen ums Eck noch nie einen Personalweis mit, besitze so einen seit drei Jahren, angeraten von J.
Auspacken der Nähmaschine. Gebrauchsanleitung. Ober- und Unterfaden. Letzterer ist abzuspulen. Die Spule mit den Unterfaden falsch eingelegt. Die Naht hält nicht. Über Twitter erhalte ich einen wertvollen Hinweis von einer ehemaligen professionellen Näherin, Danke @keriesk. Die Naht hält jetzt. Es kann begonnen werden — wie schnell die Maschine rattert. Ein Fehlhaltegriff am Stoff und alles verheddert sich. Nix geht mehr ... Um mich abzureagieren nähe ich mit der Hand weiter. D. ruft an, sie hat es mit einer der letzten Flüge geschafft, von Florida nach Prag zurückzukommen. Sie erzählt mir von der abenteuerlichen Rückreise und dass sie froh ist, wieder hier zu sein. Ich streife meinen Kampf mit der Nähmaschine. D. wohnt fünf Busstationen von mir entfernt und sie bietet mir an, bei mir vorbeizuschauen. Spontan. Am nächsten Tag, wir tragen beide Masken, ist sie bei mir. Sie schaut sich das Stück Stoff mit dem verhedderten Zwirn an. Liest nach in der Gebrauchsanweisung. Eine halbe Stunde später hat D. alles entwirrt und die Maschine läuft. Sie erklärt mir, auf welche Einstellungen zu achten ist. Ein Kurzbesuch, der mir sehr geholfen hat. Danach schaffe ich mit der Nähmaschine die ersten fünf Masken, liefere sie aus. Mit jedem Stück wird es ein wenig leichter. Ich frage bei J. nach, er bevorzugt die Version mit den Bändern, B. jene mit dem Gummi. Kleine Galanteriegeschäfte erhalten die Erlaubnis zu öffnen, da in Tschechien viele Masken nähen und Material hierfür benötigen - dort hole ich mir Nachschub an Bändern und Gummi. Sende Masken aus der Eigenproduktion per Post nach Österreich und Deutschland.
Ende April, der Rhododendron blüht in einem intensiven Rot und verleiht dem Balkon eine festliche Atmosphäre. Lade D. auf einen Sonntags-Kaffee ein. Sie erzählt, dass sie jetzt ihre monatliche Gesprächsrunde, die vor Covid-19 mit Publikum im DOX stattfand, jetzt live gestreamt wird. Sie hat das neue Studio aus Beständen des Fundus eingerichtet. Berichtet, wie anders es ist - live mit Mikrofon, Maske, Menschen und jeder Menge Technik zu arbeiten. Der für Ende Mai geplante USA -Besuch - anläßlich ihres 70. Geburtstages - ist abzuhaken. Ich frage sie, ob sie an ihrem 70. Geburtstag nicht zu mir auf den Balkon kommen wolle? Sie sagt zu. Ab 25. Mai haben Restaurants, Museen wieder geöffnet. Der 1. Juni, Pfingstmontag, in Tschechien kein Feiertag ist für D. wieder ein normaler Arbeitstag, wir verabreden uns für 17 Uhr, bei mir auf dem Balkon.
Ich gehe in mich. Ich kenne D. seit rund fünf Jahren. Ich will ihr, deren Leben so fordernd wie kurzweilig ist, im April hatten sie einen nahen Menschen zu betrauern, einen schönen Abend, Freude, bereiten. Ich weiß in etwa, was sie mag. Käferbohnen werden eingeweicht, gekocht, daraus wird ein Salat mit steirischem Kernöl. Gutes Brot, Humus, Käse, Avocado, Tsatsiki und frische Erdbeeren. Sekt brut aus Mähren, erstanden auf dem Bauernmarkt. Wasser mit Minze. Die Sonne spielt mit, wir können den Abend draußen am Balkon verbringen. Ein Blumenstrauß aus dem Garten. Edelbitterschokolade, die ich entdeckt habe und die D. beim letzten Besuch als köstlich beschrieben hat, eingepackt in ein Lein-Baumwolltuch. Vor Einbruch der Dunkelheit, dem Gesang der Vögel lauschend, in Decken eingehüllt, sagt D. "ich hätte mir nie gedacht, dass es so erfrischend sein könnte, 70 Jahre alt zu werden." Sie strahlt von innen und das hat mit mir gut getan. Der Moment Freude in schwierigen Zeiten, darin geborgen die Zuversicht.
Prag, 1. Juni 2020, Augnerin
PS: Mit D. unterhalte ich mich auf Englisch. Das ist eine der Merkwürdigkeiten, das Verbleiben in jener Sprache, in der das erste Zusammentreffen erfolgte.