Innenschau einer Leserin

Perspektiven aus der Innenschau einer Leserin -  es wird sich vieles ändern, ich will lernend und lesend dabei sein.

Die Pandemie bewirkte, dass ich meinen Fokus ändere, genauer hinschaue auf die Mechanismen, die sichtbaren und jene die ich mir erst bewusst machen muss, um sie überhaupt zu erkennen. Als Leserin habe ich einen innigen Bezug zu Büchern, der Literaturbetrieb als solcher behagt mir wenig. Online ist es, Rechner und funktionierende Internetverbindung vorausgesetzt, einfacher an Veranstaltungen teilzunehmen, beispielsweise das Wettlesen in Klagenfurt um den Ingeborg Bachmann Preis 2020. Ich habe versucht mich in die Rolle einzelner Juroren zu versetzen, habe auf Twitter verfolgt, auf was da Bezug genommen wurde. Die Gewinnern Helga Schubert hatte keinen Verlag, ihr Roman "Vom Aufstehen" wird im März 2021 bei dtv erscheinen.

Die Frankfurter Buchmesse wurde 2020 digital abgewickelt, habe beim Schreiben dieser Zeilen mein Login aktualisiert. Einigen der Veranstaltungen denen ich folgte entnahm ich, dass die Verlage mit einem Überangebot von Manuskripten konfrontiert und daher bemüht sind, die Zahl der Neuveröffentlichungen zu minimieren. Was verkauft sich? Welche Bücher werden gelesen? Mit einem beschränkten Budget - Finanzen und Zeit betreffend - treffe ich eine Auswahl. Bestsellerlisten kommen für mich nicht in Frage, zu breit gestreut: Ilse Helbich, ein Glücksfall für mich weil ich alle ihre Werke über den Droschl Verlag in Graz bestellen konnte. Von Christine Lavant, Wallstein Verlag zwei Sammelbände bestellt. Sammelband über Paul Celan von Petro Rychlo. Sachbücher:  Zusammenhänge von Wolf Lotter, Muster von Armin Nassehi und Medienresilenz von Sabria David jeweils direkt bei den Veragen bestellt und gelesen. Zdeněk Adamec, Eine Szene von Peter Handke, Besuch der Festspiele in Salzburg zur Uraufführung dieses Theaterstücks, anschließend der Besuch von Humpolec, dem Heimatort des jungen Tschechen, der sich 2003 auf dem Wenzelsplatz verbrannt hatte und im Internet ein Manifest hinterlassen hatte, ein einsamer Sucher der sich von seiner Umwelt unverstanden fühlte und keinen anderen Ausweg sah, als sich zu verbrennen. Eine lebendige Fackel für das Verbrennen im Inneren. Zu meiner regelmäßigen Lektüre zählt die tschechische Literaturzeitschrift tvar, das deutsche Wirtschaftsmagazin brandeins, Begleitschreiben von Lothar Struck, das Hören von Radiosendungen mit Schwerpunkten betreffend Literatur und Gesellschaft

Wettbewerb oder Zusammenarbeit?

Wird die Pandemie die Zeit des Wettbewerbs beenden oder noch stärker in diese Richtung beeinflussen? Werden neue Wege der Zusammenarbeit gefunden, um das herauszufinden nehme ich an der Masterclass von Prof. Günter Faltin teil. ›Entrepreneur‹ das Losungswort bei ihm. Was mich seit den 90er Jahren beschäftigt der Klimawandel und die von Rupert Riedl mitentwickelte evolutionäre Erkenntnistheorie - der Welt des Komplexen ist durch Reduktion nicht beizubekommen. Über den eigenen Tellerrand schauen, nicht im Jammern versinken.

Über das Literarische Colloquium Berlin lese ich Fatma Shafii "Von der Arbeit, Arbeit zu finden" ins Deutsche übersetzt von Guido Korzonnek: "Die Arbeitslosigkeit hat mich über die Jahre depressiv gemacht. Auf diesem Boot haben so manche nicht durchgehalten und sind abgesoffen. Untergegangen in einem Meer voller Haie und Schwertfische. Sie haben die Richtschnur in ihrem Leben verloren. Einige wurden zu Kriminellen, andere drogenabhängig, viele begingen Selbstmord."

Die Rangordnung der Arbeit, der bezahlten Arbeit, in unser aller Leben. Wohin wird sich das verschieben, wenn die Budgets nach der Pandemie neu verteilt werden? Das Grazer Literaturhaus hat in „Arbeit statt Almosen“ die Arbeit von Autorinnen, nach dem gleichnamigen Film von Marlen Schachinger diskutiert. Den Aussagen der gezeigten Kurzversion des Films folgend, kann keine der Autorinnen ihren Lebenserwerb über das Schreiben von Büchern bestreiten. Lesungen, Stipendien, Teilnahme an Wettbewerben, an diversen Veranstaltungen, ein "Brotberuf" -  werden als Einnahmenquellen benannt. Ich kenne Thomas Josef Wehlim, dessen Roman "Eisenbahnzüge" zu einer meiner Lieblingsbücher gehört, im letzten Jahr ist von ihm "Der längste Weg" erschienen. Er, der sich selber finanziert, wird vom Literaturbetrieb nicht wahrgenommen. Welche Rollen spielen Medien, die Blogs der selbsternannten Influencer? Gerhard Ruiss, IG Autoren sprach vom Markt, der vermarktet. Bei Homestories wird das Leben der Autorin, des Autors mit Bildern behübscht, der Inhalt, der Stil eines Buches spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Von Annette Knoch, Droschl Verlag, erfahre ich dass bei der Leipziger Buchmesse 2022 Österreich Gastland sein wird. Für sie als Unternehmerin eine Chance. Im Rahmen der Europäischen Union gibt es Förderungen, internationale Stiftungen, Literaturhäuser, Veranstalter von Festivals (das Internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz, seit 2010 jährlich im September in Czernowitz  stattfindet, entstand aus einer Idee an einem Prager Küchentisch, als Vorlage diente u.a. das Prague Writers' Festival), Kulturinstitute - wie das eine mit dem anderen verzahnt ist, für mich ein interessantes Studium. So bald es international wird -  kommen die Übersetzerinnen, die Übersetzer mit ins Spiel.

"Reaktanz >innerer Blindwiderstand<, entsteht, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht." Carmen Thomas beschreibt Reaktanz als Tendenz, gegen diese Bedrohung zu rebellieren, daraus ergibt sich eine innere Abwehrhaltung, ein unklarer, also blinder Widerstand gegen Beeinflussungsversuche. ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein: „Reaktanz ist gut, weil sie eine Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen verhindert. Reaktanz ist der Beweis dafür, dass wir zur Freiheit geboren sind. (...) Ohne Reaktanz würden wir uns alle nach und nach in Gemüse verwandeln. Ohne Reaktanz läuft ‚Demokratie‘ auf eine massenpsychologische Zwangsherrschaft des Einheitsdenkens hinaus. Reaktanz ist die Kraft, die dafür sorgt, dass ein Meinungspendel nach einer gewissen Zeit wieder zurückschwingt. (…) Reaktanz ist politisch. Reaktanz führt dazu, dass Verbote sich, langfristig gesehen, nicht lohnen.“ 

Mit der Reaktanz als Wahrnehmungsensor finde ich mein inneres Gespür für das richtige Maß, es weist mich an genauer hinzusehen. Nehme ich reaktantes Verhalten als hilfreichen Impuls wahr, hilft es mir in schwierigen Situationen den Umgang miteinander zu verbessern. 

Bei all den Unwägbaren eines wird mir klar - es wird sich vieles ändern, ich will lernend und lesend dabei sein.

 

Prag, 21. Jänner 2021, Augnerin

 

 

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