Bahnhofshalle Ceske Velenice

Reisend den Gedankenwegen von Büchern folgen, so dass sich ein eigener Lesepfad entwickelt. Absatzweise der Übergang von einem zum anderen Bahnhof*  in den Zwischenräumen verweilend, zeilenweise.

 

Eine Liebe an der Grenze

101 Jahre Franz Kafka und Milena Jesenská: Begegnung in Gmünd

Internationales Symposium, 23.7.2021 im Rahmen des Festivals Übergänge - Přechody

Kleine BahnhöfeDie Streckenkunde (entlehnt aus dem Eisenbahner-Latein) war für mich ausschlaggebend für die Reise nach České Velenice - Gmünd. Ich wählte eine Direktverbindung von Prag aus: eine alte Zuggarnitur mit einem Coupé in denen sich die Fenster noch öffnen lassen. Mit dem ersten Zug um 7.29 Uhr ab Prag die Hinfahrt, die Rückfahrt um 19.11 Uhr ab České Velenice mit Umsteigen in Veselí nad Lužnicí. Das Verhältnis rund 7 Stunden allein in einem Coupé, 8 Stunden unter Menschen vor Ort, kommt meiner Eigenart - der Wechsel zwischen Interaktion und Alleinsein - entgegen. Aus dem fahrenden Zug zurückwinken – weckt Erinnerungen an Jan Skácels "Kleine Bahnhöfe"

Der Weg vom Bahnhof České Velenice zum Kulturzentrum Fenix führt durch eine Allee, gefühlte zehn Gehminuten. Als registrierte Besucherin erhalte ich ein Papierarmband, eine freundliche Dame weist mir den Weg in den abgedunkelten Saal, das Symposium hat schon begonnen. Ich sehe Gabriela Kalinová von der Prager Franz Kafka Gesellschaft, Markenzeichen Hut, in der dritten Reihe, sie hat mir einen Sitzplatz reserviert. Es ist genügend Platz. In der Reihe vor mir Alena Wagnerová mit ihrem Mann Heinz Köhler, auf dem Podium kämpft einer der Teilnehmer mit dem Mikrofon, einmal ist es zu nah und dann wieder zu weit weg. Da ich seine Zitate - die meisten  sind den Büchern von Hartmut Binder entnommen - kenne, versäume ich nichts.

Robert Menasse, Heinz Köhler, Alena Köhler-Wagnerová
Robert Menasse, Heinz Köhler, Alena Wagnerová, 23.7.2021

Mein Blick schweift nach hinten und meine Blicke kreuzen sich mit jenen von Robert Menasse, den ich als einem der Teilnehmer des Prague Writers’ Festival kenne und dessen Bücher - wie jene von Alena Wagnerová, Milena Jesenská, Franz Kafka - gelesen habe. In der ersten Kaffeepause, der eine oder andere Plausch rund um den Kaffeeautomaten.

Was ist bei mir der Leserin hängengeblieben? Dieser spielerische Umgang von Alena Köhler Wagnerová, zwischen der deutschen und tschechischen Sprache. Sie hat als Autorin dafür gesorgt, gemeinsam mit Marie Jirásková, Jana Černá u.a., dass Milena Jesenská eigenes Wirken als Journalistin, Autorin wieder bekannt gemacht wurde, denn in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei war sie - Milena -  in den 20er- und 30er Jahren eine namhafte Persönlichkeit. Milena Jesenská war die erste, die Franz Kafka ins Tschechische übersetzt hat, die sich mit den Vorgängen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Form von Reportagen auseinandergesetzt hat. In der Národní listy erschien am 6.6.1924 ihr Nachruf auf Franz Kafka.

Zum Phänomen Kafka Robert Menasse: -  “... eine Portion Kafka steckt in jedem von uns, immer dann wenn wir uns als nicht sehr lebenstüchtig fühlen, wenn wir Angst haben, Hoffnung und Sehnsüchte fühlen, wenn wir emphatisch und seismographisch sind. Konkrekt als Autor habe ich das Problem: jeder angehende Schriftsteller wird durch Lektüre geprägt - bevor eine eigene Sprache gefunden wird. Bei Kafka ist es so, dass der von ihm begonnene Weg mit ihm endet. Bei wenigen  Autoren ist es so radikal wie bei Franz Kafka und Thomas Bernhard, dem anderen Lungenkranken der österreichischen Literatur. Epigonen, Diener sind die Folge.” Weiters zitiert Menasse Milan Kundera aus Verratene Vermächtnisse1 “Kafka nicht als Seismograph lesen, sondern als dem  Autor einer Nachgeschichte - einer romanhaften Welt, ohne Erinnerung”.

Alena Köhler-Wagnerová
Alena Wagnerová

“Die Tschechen können das, Kafka unvoreingenommen lesen” Alena Wagnerová “In Brünn 1955 wurde ich auf den Prozess und auf Kafka als interessanten Autor hingewiesen, habe ihn gelesen- Tolstoj, Dostojewski - waren aufeinmal weg -  es war ein Umbruch, Aufbruch. Ich las Kafka ohne jegliche Interpretation, die nachher erschienen Interpretationen haben mich Kafka wieder entfremdet. Auf Vorbereitung auf dieses Symposium habe ich seine Kurzgeschichten2 gelesen.  …  Da war er wieder der lachende Kafka, der tschechische Humor - den in Deutschland beinahe niemand versteht, diese Erfahrung machte ich in Deutschland".

Eine Stimme aus dem Zuschauerraum Gabriela Kalinová, Mitglied der Tschechischen Franz Kafka Gesellschaft - "das Milieu hat bei Franz Kafka mitgeschrieben: das Nebeneinander - selten ein Miteinander: jüdischer, deutscher, tschechischer - Interkulturalität - Prager Einflüsse und Atmosphäre, deutschsprachige Vorgänger, tschechisches Nationalbewußtsein, - der junge Kafka lebte auf einer Baustelle während der Sanierung der Prager Judenstadt -  spürbar der Übergang von engen Gässchen in breite Straßen". 

Meine Frage "In welcher Sprache korrespondierte Milena mit Franz K." fand ich in dem in České Velenice erworbenen Buch von Hartmut Binder, Kafkas Wien, Seite 355: "Milena konnte, als sie nach Wien kam, nach eigener Aussage kein Wort deutsch - sie hatte auf dem tschechischen Minerva-Gymnasium, das sie mit Erfolg absolvierte, keinen Deutschunterricht genossen -, konnte sich deswegen nur schlecht in dieser Sprache ausdrücken, was Kafka bemerkte, der, wie immer bei anderen das Positive suchend, diesen Mangel zu einem Kompliment umdeutete, wenn er schrieb: Sie beherrschen es meistens erstaunlich und wenn Sie es einmal nicht beherrschen, beugt es sich vor Ihnen freiwillig, das ist besonders schön. Gleichwohl bat er Milena, ihm auf Tschechisch zu schreiben, das ihm viel herzlicher erscheine als seine deutsche Muttersprache und ihm zudem die ganze Milena zeigte, und so geschah es auch."3 

In Resonanz treten mit dem Gelesenen, Gehörten – es zueinander in Verbindung setzen bei einem Besuch von Kafkas Grab in dessen Nähe auch Vilém Flusser seine Ruhestätte gefunden hat. Aus dem Fenster schauen und dankbar sein wenn sie sich öffnen lassen in einem Zug zwischen Prag und Gmünd. Am 10.8.2021 wurde der Milena Jesenská Park in Prag 3 mit einer Lesung getauft. Den Erzählspuren von Alena Wagnerová lesend folgen.

 

Franz Kafka - Milena Jesenska Symposium
Sie trafen sich anlässlich des Festivals Übergänge - Prechody am 23.7. in České Velenice und vertieften sich in Vorträgen, Gesprächen und Diskussionen EINE LIEBE AN DER GRENZE - 101 Jahre Franz Kafka und Milena Jesenská: Begegnung in Gmünd. Von links nach rechts Thomas Samhaber, Harald Winkler, Jiří Österreicher, Alena Wagnerová, Robert Menasse, Thomas Aigner, Charlotte Aigner, Alfred Schmidt

 

České Velenice, Bilderbogen vom Kafka-Jesenská-Symposium

 

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Prag, 2. August 2021, AUGnerin

 

PS: Nach dem Symposium erfuhr ich von Alena Wagnerová, dass sie für ihren Erzählband "Im Leben unterwegs" noch ein Verlagshaus sucht. Ich begab mich auf Suche und bin froh, dass im Wieser Herbstprogramm 2022 das Buch erschien. 



Bahnhof České Velenice - 4 Frauen - 4 Celli - eXtracello: Edda Breit, Gudula, Melissa Coleman, Margarethe Herbert füllten die Bahnhofshalle mit frischen, eleganten Streichzügen im Rahmen des Festivals Übergänge - Přechody. Das Konzert in der Bahnhofshalle ein wunderbarer Abschluss des Symposiums.


Fenster:
Man kann nicht weiter gehen als Kafka in Der Prozess; er hat ein höchst poetisches Bild einer höchst unpoetischen Welt geschaffen. Mit “höchst unpoetischer Welt” will ich sagen: die Welt, in der es keinen Platz mehr gibt für die individuelle Freiheit, für die Originalität des Individuums, in der der Mensch nur noch ein Instrument außermenschlichen Kräfte ist: der Bürokratie, der Technik, der Geschichte. Mit “höchst poetischem Bild” wil ich sagen: ohne ihr unpoetisches Wesen und ihr unpoetischen Charakter zu verändern, hat Kafka diese Welt kraft seiner grenzenlosen Dichterphantasie umgestaltet.
K. ist völlig absorbiert von der Situation des Prozesses, der ihm aufgezwungen wurde; er hat absolut keine Zeit, an etwas anderes zu denken. Und trotzdem gibt es sogar in dieser ausweglosen Situation Fenster, die sich für einen kurzen Moment plötzlich öffnen. Er kann durch diese Fenster nicht entkommen; sie öffnen: sie öffnen sich halb und schließen sich sogleich wieder; aber er kann wenigstens, in einem blitzartigen Augenblick, die Poesie der Welt draußen wahrnehmen, die Poesie, die trotz allem vorhanden ist als eine stets gegenwärtige Möglichkeit und die einen schwachen Silberglanz auf ein Leben eines Gehetzten wirft.

S. 210, 211 Milan Kundera, Verratene Vermächtnisse, Fischer Taschenbuchverlag 1996 - Aus dem Französischen von Susanne Roth


 2 Eine der von Alena Wagnerová zitierten Kurzgeschichten von Franz Kafka war jene über die Kaldabahn. Wagnerovás eigene Erzählung "Die Landärztin" öffnet einen neuen Blickwinkel auf Kafkas Familie.

3 Fußnote 810 in dem Bildband Kafkas Wien, Hartmut Binder, Vitalis Verlag 2013: Mit einem Querverweis das Buch "Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang", Alena Köhler-Wagnerová - in meinem Regal befindet sich der Band Dopisy Mileny Jesenské, Uspořadala Alena Wagnerová, Prostor 1998

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