Zwiegespräch

Zwiesprache  mit dem Roman »Hierorts. Bleiben« von Waltraud Mittich

Waltraud Mittich, S.104: Wir Menschen denken nicht in Fakten, sondern in Geschichten. Jede Familie hat ihre eigene, erst die kleinen machen dann das aus, was wir Geschichte nennen. Denn aus jeder kleinen Familienanekdote lässt sich die große Geschichte herauslesen, der Geist der Zeit.

Milena Findeis: In einem literaturfernen Haushalt (Groschenromane, Readers Digest Abo) aufgewachsen, war es der um 11 Monate jüngere Bruder, der das Gymnasium und eine Kunsthochschule besuchte, der mir die ersten literarischen Bücher schenkte: Peter Handke, Wolfgang Bauer, Andreas Thalmayr »Das Wasserzeichen der Poesie«.

S.106: Um im Wetterleuchten des Zukünftigen nicht dazustehen mit leeren Händen ist die Verantwortung auf sich zu nehmen, die Vergangenheiten zu erzählen, die kleinen Geschichten der kleinen Leute, ihren Entscheidungen nachzuspüren, ihren Wünschen; ihren Entscheidungen nachzuspüren, ihren Wünschen; ihnen eine Stimme zu geben, denn nur so ist Geschichte wahr. Die im Jetzt Schreibende glaubt zudem an hintergründige Verknüpfungen, Zusammenhänge, die uns verbinden mit den Vergangen, noch einmal ist das zu betonen: ...

Der erste Atemzug außerhalb des Mutterleibs, die ersten Gehversuche: ohne Erinnerungen. Der Körper erinnert sich, hat den Atem, die Bewegungen als Muster eingewebt. Von der Dorfstraße, die Pirka mit Windorf, verband über den Zwischenstationen Zeltweg, Zell am See, Frankfurt nach der Samtenen Revolution in Prag picken geblieben. Es ist der gefühlte Körper, der mich mit dem Sein verbindet, ortsungebunden.

S.106, 107 .. das Leben des Paters, der im fernen Bolivien starb und wie Tod und Neugier seitdem eng zusammenkamen für das Kind; das Leben der Rosl, der Stern, der für sie aufging, wie schnell er verglühte, und wie das Kind dieses Leben erforschte, gar erahnte, im Gesicht der Tante, deren Foto an der Wand hing; wie die im Jetzt Schreibende deshalb von dem einen einzigen Stern, der aufgeht für jeden Menschen, ihr Leben lang gewusst und von ihm geschrieben hat; das Leben des Michael Mittich, Pionier und Verfehlen seines Eigenen, ferner Mensch nah, ihm nahe rücken, Gedankenübungen; Lachen mit ihm, weil die im Jetzt Schreibende ihn erfunden und gefunden hat; weil es ihr eine Freude war, seine Tanzbärin zu sein; in Gelächter ausbrechen mit den Vergangenen über die Komödie unserer Leben; das Leben des Großvaters, das am seidenen Faden der Parzellen hing, eingedenk seines Traumas, das die Familie erlitt; ihm trotz allem die Belanglosigkeit seines Begehrens einflüstern, versteckt im Heuhafen; das Leben der Warwe, die ein Kind geliebt hat und so ein Abbild der möglichen großen Lieben sichtbar gemacht hat. Die vergangenen Leben, das Dasein dieser Menschen studieren, ihr Hiergewesensein immer besser ausleuchten, das ungebrauchte Sprechen über sie einüben, langsam gehen.

Sieben Menschen, fünf Erwachsene, zwei Kleinkinder, teilen sich eine Küche, einen Schlafraum, ohne fließendes Wasser. Das ist vom Brunnen zu holen. Nach dem dritten Kind wird aushäusig geschlafen. Einen Kilometer jeden Abend, um ein ungeheiztes Zimmer zu beziehen, morgens spätestens um 6 Uhr ist die Schlafstätte zu verlassen. 1960  zogen die  Eltern mit drei Kindern in eine Keusche am Waldesrand. Das mit den Brüdern geteilte Zimmer war feucht, hatte ein kleines Fenster. Am liebsten war ich im Wald, am nahen Bach. Nächtens wurden die Hühner in den Stall geholt. Die Nachbarin, eine Bäuerin trug tagein, tagaus eine Kittelschürze, ein Kopftuch. Wenn sie in die Stadt musste, sah sie in Rock, Bluse, Weste so anders aus. Während des Besuchs der ersten Volksschulklasse, der Vater hatte als Berufssoldat eine Dienstwohnung in Zeltweg erhalten, der Umzug. Die von den Engländern in der Nachkriegszeit erbaute Siedlung für Armeeangehörige diente nach deren Abzug dem Österreichischen Bundesheer als Quartier für Bedienstete. Diese Wohnsiedlung lag neben dem Kasernengelände, von diesem durch einen Zaun getrennt. Schlupflöcher ermöglichten dem Kind, direkt auf das Truppenübungsgelände der Soldaten zu gelangen. Der Befehlston des Militärjargons hat seinen Eigensinn geweckt.

S.107, 108, 109:  Das Ziel der Reise ist Alassio, Ferienort an der ligurischen Riviera. Die Mutter hat da als ganz junge Frau in einem vornehmen Haushalt als Dienstmädchen gearbeitet. Die Zugreise ist ein Horror, beim Umstieg in Milano dreht die Zilli durch. Zu viele Menschen, die Treppen sind ein Desaster. Die Tochter bleibt stoisch, was sie nie bleibt. Als die Zilli durchs Zugfenster das Meer sieht, weint sie. Auch die Tochter weint, die Bergmenschen sind immer gerührt, wenn sie das Meer sehen. Sie unternehmen nun, wie vom Reiseführer vorgesehen, eine Wanderung. Der Himmel über der chiesetta Santa Croce umfängt zwei Frauen wie ein Gespinst, beide wünschen in seltener Eintracht eingewebt zu sein in ihn. Auf dem uralten Römerweg, erbaut von Oktavianus Augustus, – immer muss die Tochter mit ihrem Wissen angeben – spricht die Mutter zum ersten Mal mit der erwachsenen Tochter über den Vater, vielmehr über den Geliebten, der er war. Er hat mein Herz verwundet mit einem einzigen Blick, sagt sie. Warum kennt die Zilli diese Textzeilen? Es ist wohl so, dass solche Texte in jedem Menschen schlummern, es muss die Gelegenheit kommen, sie auszusprechen. Die Tochter kann wieder nicht umhin, zu belehren, dies seien Zeilen aus dem Hohelied. Aber wieder ist das leeres Gerede. Die Tochter will der Mutter sagen, dass sie, die Tochter glaube, die Mutter habe weder als Frau noch als Mutter, danach, nach dem Russen, der ein Ukrainer war, ihr Herz riskiert. Die Mutter versucht noch einmal zu reden. Eine seiner Haarsträhnen habe ich aufbewahrt, er war blond wie ein Schwede, sagt sie. Es ist meine Haarsträhne, die du eingerahmt aufbewahrt hast, sagt die Tochter. Ich wurde krank vor Liebe, sagt die Mutter. Ja, du hattest eine Magenresektion gleich nach 1946, sage ich. In Albenga trinken wir einen Prosecco, wie vom Wanderführer vorgesehen. Es gab dann indiskrete Fragen von mir, warum die Zilli sich nie bemühte, verführerisch auszusehen oder zu sein. Denn in der Tat sah sie immer etwas vernachlässigt aus. So schien es der Tochter. Das sagt sie und lächelt schief, hatte keinen Platz in meinem Leben. Die Tochter gibt ihr diesmal schnell recht, denn auch sie glaubt, dass Kinder wirklich kein Recht haben, Einblick einzufordern in das intime Leben ihrer Eltern. Und glaubt weiters, dass sie selbst das Glück hatte, später, in anderen freieren Zeiten zu leben, mit der Einschränkung, dass die Angst vor einer Schwangerschaft in ihrer Jugend dauernd präsent war, weil die Mutter immer mit erhobenem Zeigefinger warnte davor. Nicht mit Worten. Es gibt eine Körpersprache, die das mitteilt. Die Zilli verträgt keinen Alkohol und will dann nichts wie weg. Am liebsten nach Hause. Es gibt keine Reparatur-Reisen. 

hierorts

Die schöne, charmante Frau, die  keine 18 Jahre alt bei ihrer Hochzeit gewesen ist, schwanger mit mir. Dem dicken, haarlosen Baby, das als "kräftiger Bua" angesehen wurde. Dieser Schuldkomplex "wegen der Schwangerschaft war ich zur Heirat gezwungen" sitzt bis heute in mir fest, weckte die Energie, um mit 15 Jahren - neben der Handelsschule - mit der Erwerbstätigkeit zu beginnen. Mit 18 Jahren zog ich in die erste eigene Mietwohnung. Endlich ein Zimmer für mich allein, nicht mehr verpflichtet sein, bei der Hausarbeit zu helfen, die Geschwister zu betreuen. Sie, die schöne Mutter wurde von Männern geliebt, bewundert. Ich war die kratzbürstige, renitente Tochter, die auf keinen Fall im Hafen der Ehe landen wollte. Sie war stolz auf den zweiten Ehemann, denn sie drei Jahren nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, meinen Vater, heiratete. Er trug sie auf Händen, sie unternahmen alles gemeinsam. Ich habe ihr nie gesagt, dass ich fünf Heiratsanträge dankend abgelehnt hatte, weil mir bis heute das Alleinsein lieber ist als die traute Zweisamkeit ist. Es gab und gibt die Liebe in meinem Leben, doch ich wollte die nie in das enge Korsett einer Ehe zwängen. Seit Anbeginn meines Denkens habe ich mich in erster Linie als ein Mensch, das Kind definiert. 

S. 109, 110 Es hat sich ausgeschrieben.
Leider nicht. Die Tochter weiß, es ist ihr bewusst, dass auch sie selbst noch Rede und Antwort zu stehen hat auf Fragen, die sich ihre Mutter, auch ihr Großvater, gestellt haben, in Gedanken ist es zu tun; es hat sich also doch ausgeschrieben. Eines ist jedoch zu verschriftlichen. Es sind die Lebensfragen des Michael Mittich, geboren 1804, zentral für das Leben der im Jetzt Schreibenden. Der Blick der Nachfahrin auf sein unvollendetes, sein halb gelebtes Leben, auf sein Sterben in einem Dorf, das er verlassen wollte, obwohl er das Dorf war, schmerzen muss die Einsicht im Wissen, dass Bleiben die Antwort beider sein muss. Warum es das Dorf, dieses Dorf, solche Dörfer geradezu geben muss, diese Frage hat sich der Schneiderhuter Michael ganz sicher gestellt, er hat sie beantwortet, indem er zurück gekommen ist. Seine Nachfahrin würde sie gern in seinem Sinn beantworten. Das Dorf als shelter zu interpretieren ist eine Möglichkeit. Das Bleiben lernen.

hierorts

Nach der Samtenen Revolution, ich war in Frankfurt in Bücher von Kafka, Jesenská, Hrabal, Havel, Kundera, in die  Skácel Lyrik Übersetzungen von Reiner Kunze vertieft, hatte gerade mit dem Fotografieren begonnen - zog es mich nach Prag. Es war eine Herzensentscheidung für das Lesen, das Erlernen einer neuen Sprache. Tagsüber arbeitete ich in einem Büro, und nächtens war ich unterwegs um die Plätze kennenzulernen, die ich aus der Literatur kannte. Abseits der touristischen Meilen fühle ich mich lebendig. Am Rande der Stadt, das vor 100 Jahren noch ein Dorf ward. Gelegentlich verweile ich in Lenka Reinerovás Traumcafé, warte auf dem Lokalbahnhof auf einen der blauen Züge, um über die Dörfer zu gehen und in meinem böhmischen Dorf zu bleiben.

S.110 Fragil ist die Zukunft, sie war es schon immer, brüchig; beschädigt die Länder, die Grenzen, die Parzellen, die Flüsse, die Namen, die Orte, die Menschen. In der Schwebe aber liegt auch die Hoffnung. Für größere Abenteuer stehen wir seit immer bereit. In den Schauern des Zukünftigen schütteln wir trocken das Haar. Die überlieferten Sätze vernichten, bedeutet an den Kreuzungen falsch abbiegen, die Traumen vergessen. Kein LIed für sie, die Conca, nur das des Windes, der in Träumen von den Freiheiten der Vertrautheit erzählt.
Bleibm. 

hierorts

So endet Hierorts. Bleiben. Ich nehme das Buch mit auf dem Balkon. Stille. Das bewahren, was unser menschliches Dasein ausmacht, die Güte des Verstehens, das Miteinander-Auskommen. Was bleibt, wird von anderen entschieden. Wir sind. Lesend gewesen. Weiterlesen. Weiterleben. 

30-08-2025 10:05 Radio Wohnzimmer mit der Autorin Waltraut Mittich

 

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